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Sie nennen es Leben

Titel: Sie nennen es Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Pilarczyk
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selbst einige Jahre als Internetaktivist engagiert. Heute kritisiert er den » Kreis vor allem westlicher Denker, in deren Augen ein solcher digitaler Aktivismus autoritäre Regime zu stürzen vermag « : Diese » digitalen Enthusiasten « würden zwar begeistert über Flashmobs berichten, aber nicht über das, was im Anschluss geschehe.
    In Weißrussland geschah laut Morozov Folgendes: Nach dem ersten Flashmob begannen die Behörden die Blogcommunities, in denen sich die Proteste organisierten, zu überwachen. Oft war die Polizei schon vor den Demonstranten da. Sie wurden dann nicht nur verhaftet, die Polizei machte auch Fotos von ihnen. Zusammen mit den Profilbildern, die Aktivisten von sich selbst ins Netz gestellt hatten, konnte die Polizei somit Unruhestifter identifizieren. Diese wurden im Anschluss vom Geheimdienst KGB verhört und mit Universitätsverweis und Schlimmerem erpresst. Unter den Flashmobbern machte sich schließlich die vermeintlich überwundene Angst vor dem übermächtigen Staat wieder breit, und die Proteste erstarben. Der weißrussische Staat hatte die Revolution mit revolutionären Mitteln niedergeschlagen.
    Â» Aktivisten wurden einst über ihr Anliegen definiert. Heute werden sie über ihre Werkzeuge definiert « , schreibt Malcolm Gladwell. Der Journalist ist Redakteur beim » New Yorker « und Autor mehrerer Beststeller wie » Überflieger « oder » Blink! « , in denen er Phänomene wie Hochbegabung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erklärt. In dem Aufsatz » Small Change « (»Wechselgeld« oder auch » kleine Veränderung « ), der im Oktober 2010 im » New Yorker « erschien, hat er seine Kritik an der Netz-Euphorie von Leuten wie Clay Shirky auf den Punkt gebracht: Wie soll in Moldawien, einem Land mit sehr wenigen Twitter-Konten, eine Twitter-Revolution ausbrechen? Warum sollten Iraner ihre Proteste auf Englisch koordinieren, wenn ihre Muttersprache Farsi ist? Was westliche Journalisten über die Demonstrationen in beiden Ländern mitbekamen, war nur, was über westliche Kanäle wie eben Twitter lief. Nach innen hatten die neuen Medien kaum Wirkung.
    Â» Wir scheinen vergessen zu haben, was Aktivismus ist « , schreibt Gladwell. » Aktivismus, der den Status quo infrage stellt, der ein tief verwurzeltes Problem angeht, ist nichts für Feiglinge. « Diese Art von Aktivismus kam für Gladwell bei der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1960 er Jahren zum Tragen. Aktionen wie Sit-ins, bei denen schwarze Studierende ihre Rechte im öffentlichen Raum einklagten, waren zum Teil lebensgefährlich. Im Mississippi Freedom Summer Project, einer Initiative, bei der sich schwarze und weiße ehrenamtliche Helfer gemeinsam gegen Rassismus engagierten, starben 1964 drei Helfer, 37 schwarze Kirchen wurden niedergebrannt, mehrere Unterkünfte von Aktivisten wurden bombardiert, Helfer verprügelt, verhaftet und angeschossen. Ein Viertel der Ehrenamtlichen stieg vorzeitig aus dem Projekt aus.
    Die, die ausstiegen, glaubten aber nicht weniger an die Sache als die anderen. Zu diesem Ergebnis kommt der US-Soziologe Doug McAdam. Er hat das Freedom Project und seine Teilnehmer eingehend analysiert. Tief motiviert waren demnach alle. Der entscheidende Faktor dafür, ob man trotz der großen Gefahren weitermachte, war ein ganz anderer: nämlich welche Verbindungen man zu anderen Teilnehmern hatte. Wer gute Freunde hatte, die ebenfalls im Projekt engagiert waren, blieb mehrheitlich dabei. Wer keine engeren Beziehungen zu anderen Aktivisten hatte, stieg eher aus.
    Das Phänomen, das sich hier abzeichnet, ist das starke/schwache-Bindungen-Phänomen. Nachhaltiger Aktivismus, der echte Veränderungen bringt, ist von engen Verbindungen gekennzeichnet. Das zeigt sich auch bei Paul, dem jungen Piraten-Parteimitglied. Wen er bei seinem unermüdlichen Einsatz für die Partei bislang überzeugen konnte, waren seine Freundin und seine Eltern– die wahrscheinlich engsten Verbindungen, die er hat. Bei ihnen hat er das aufgebracht, was Shirky die schwierigste, demütigendste Sache der Welt nennt: den unermüdlichen, persönlichen Einsatz.
    Lose Verbindungen sind dagegen prägend für die Art von Engagement, das etwa hinter Flashmobs oder dem Aufsetzen von Online-Unterschriftenaktionen steckt. Hier finden sich Gruppen zusammen, die gerade durch die Unverbindlichkeit

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