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Sie sehen aber gar nicht gut aus!

Sie sehen aber gar nicht gut aus!

Titel: Sie sehen aber gar nicht gut aus! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Strzoda
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Lenny, der die restlichen Geräte aus dem RTW holte.
    Das Licht der Neonröhre flackerte defekt im Dreivierteltakt – die Röhre brummte wie ein kaputter Stromkasten. Die Aufzugwände waren mit dem geistigen Durchfall irgendwelcher Sozialabsteiger beschmiert und die Knöpfe schwarz und grün angesprüht. Ich konnte das Geschmiere nicht entziffern.
    Die Fahrt in den sechsten Stock dauerte eine Viertelminute. Währenddessen hörte ich den Lärm einiger Südeuropäer, die im Treppenhaus wehklagten. Das Gepolter schneller Schritte und das Klappern des Treppengeländers hallten durchs ganze Haus. Türen schlugen.
    Während der Fahrt mit dem Aufzug musste ich an einen meiner lange zurückliegenden Einsätze denken. Damals war ich damit beauftragt worden, unser frisch repariertes Notarzteinsatzfahrzeug aus der Werkstatt zu holen. Auf dem Rückweg lief das Funkgerät des Fahrzeuges, und eine Alarmmeldung riss mich plötzlich aus meinen Gedanken. Nur zwei Straßen weiter meldete der Leitstellendisponent einen bewusstlosen Säugling. Es hätte mindestens zehn Minuten gedauert, bis Hilfe eingetroffen wäre. Sauerstoffmangel macht aus einem menschlichen Hirn innerhalb weniger Minuten eine Matschbirne. Ein sogenanntes apallisches Syndrom wäre die Folge: ein funktionsfähiger Körper ohne jede Steuerungsmöglichkeit. Das ist etwa so, als würde man einem Computer den Hauptprozessor entfernen. Zwar liefe er, man könnte aber nichts mehr mit ihm anfangen oder ihn für irgendwas benutzen. Menschen mit einem Enthirnungssyndrom können Jahrzehnte auf irgendeiner Intensiv- oder Pflegestation vor sich hinvegetieren, ohne irgendetwas davon richtig mitzubekommen. Und man kann nichts unternehmen, um ihnen zu helfen.
    Ich griff damals daher zum Funkhörer, meldete mich in der Leitstelle und bot mich zur Erstversorgung an. Nach zweimaligem Abbiegen landete ich vor der Haustür einer türkischen Familie. Der Vater lief sofort auf mich zu, riss die Fahrertür fast aus den Angeln. Dann kam noch sein Bruder dazu. Beide packten mich, zerrten mich regelrecht aus meinem Fahrzeug und schrien, dass ich mich beeilen solle. Ich konnte gerade noch meine wichtigsten Geräte schnappen und folgte den Männern ins Haus.
    Für den jüngsten Sohn der Familie kam jedoch jede Hilfe zu spät, er war wohl schon seit einigen Stunden tot. »Plötzlicher Kindstod«, hieß es später. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Grün-blaue Hautverfärbungen mäanderten entlang des Halses und verloren sich im blau gestreiften Wickelbody des Jungen. Seine Augen blickten halb geöffnet ins Leere wie die Glasaugen einer Steiff-Puppe. Die Familie erwartete dennoch Hilfe von mir. Was würden sie tun, wenn ich keine Hilfe leisten konnte? Wenn ich nichts unternehmen würde? Das Wehklagen der Angehörigen schwamm durch mich hindurch. Ein kleines Mädchen schrie, und die Wucht ihrer grellen Stimme traf mich wie ein Faustschlag. Ich erschrak und wankte. Mehrere Arme rissen an mir. Alle schrien mich an, ich solle etwas tun und dem Säugling helfen. Also entschied ich mich dazu, etwas zu tun, was ich während meiner folgenden Zeit beim Rettungsdienst niemals wiederholt habe. Ich begann die Herz-Lungen-Wiederbelebung des Säuglings trotz absolut sicherer Todeszeichen.
    Ich reanimierte nicht, weil ich dem Kind helfen wollte, denn das Kind war längst verloren. Ich tat dies auch nicht, weil ich der Familie Hoffnung machen wollte, die später sowieso nicht erfüllt werden konnte. Ich tat dies nur, weil ich mir selbst helfen und mich schützen wollte. Denn meine Angst vor der Reaktion der türkischen Familie war enorm. Als der Notarzt mit meinen Kollegen die Wohnung betrat, war ich erleichtert wie ein kleiner Junge, dessen Eltern einen seiner aufgeflogenen Lausbubenstreiche nur mit einem müden Lächeln quittiert hatten.
    Als ich mit dem Aufzug oben ankam, sah ich Manja Petrovic. Sie lag in ihrem eigenen Urin und anderen Körperexkrementen auf dem Rücken im dunklen Zwischengeschoss dieses Wohnblocks und hatte sicher längst andere Sphären erreicht. Meine kurze Blickdiagnose bestätigte die Bemerkung des Mädchens unten im Hauseingang. Frau Petrovic atmete tatsächlich nicht mehr. Mein kurzer Griff an ihren Hals tastete keinen Puls.
    »Reanimation«, rief ich Lenny zu, der mit EKG und Sauerstofftasche die sechseinhalb Stockwerke hochgelaufen war und wie nach einem Marathon schwer schnaufte.
    »Danke fürs Warten«, giftete er in meine Richtung und hatte zunächst damit zu tun,

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