Sie sehen aber gar nicht gut aus!
wollte.
»Wiedersehen, Charline«, rief ich noch. Doch der Typ hatte die Tür bereits hinter sich ins Schloss fallen lassen. Ich war seitdem nie wieder dort gewesen.
Wir hatten Charline in Seitenlage auf unsere Trage gepackt und befanden uns mit ihr auf dem Weg ins Krankenhaus. Durch einen venösen Zugang bekam sie Natriumchloridlösung. Sie schlief ihren Rausch aus. Der Mediziner würde das »Komastufe IV« nennen.
Die Reaktionen im Krankenhaus waren zunächst nur Grimassen, Kopfschütteln und das Hochziehen diverser Augenbrauen in der Notaufnahme. Meine Übergabe an den Internisten war eher knapp.
»Weibliche dreiundfünfzigjährige C2-Intoxikation. Schmerzreiz kann man völlig abhaken. Eine Reaktion wie ein Murmeltier im Winterschlaf.«
»Die kenn ich. Na super, wir sind voll bis unters Dach.«
»Ich kann nichts dafür. Wir haben Charline nicht gefunden. Man hat uns gerufen«, sagte ich und verließ eiligen Schrittes die Notaufnahme.
Charline landete schließlich auf der Intensivstation. Am nächsten Tag passierte – nichts. Sie wachte nicht auf. Nicht einmal kurz. Es vergingen zwei weitere Tage, bis sie endlich die Augen aufmachte. Beim Mittagessen in der Kantine habe ich erfahren, was der Grund dafür gewesen war. Charline hatte nach dem Konsum von Korn, Schnaps und Jägermeister 6,2 Promille Alkohol im Blut gehabt. Unglaublich. Für einige Wochen war Charline dadurch zum Dauerthema im ganzen Krankenhaus geworden. Ein Laborfehler war ausgeschlossen – die Messung war natürlich mehrmals durchgeführt worden, weil sie ursprünglich niemand glauben konnte. Dies war übrigens nicht der höchste je dokumentierte Messwert. Die polnische Nachrichtenagentur PAP meldete am 20. Dezember 2004, dass ein Fußgänger im zentralpolnischen Dorf Skierniewice von einem Auto erfasst worden war. Der Mann hatte 12,3 Promille Alkohol im Blut und befand sich nach einem Saufgelage auf dem Weg nach Hause. Aufrecht.
Und dann verschwand Charline einfach. Sang und klanglos wie ein Gewitterwölkchen am Saharahimmel. Nein, Sie denken jetzt sicher in die verkehrte Richtung. Charlinchen hat sich nicht totgesoffen. Sie ist auch nicht an einer Leberzirrhose krepiert oder in irgendeinem Gebüsch rückenlagig an ihrer eigenen Kotze erstickt.
Charline hat sich umgebracht, weil sie nicht mehr wollte. Sie sprang aus dem vierten Stock einer psychiatrischen Klinik und landete auf dem Betonabsatz einer Mauer. Knallharte Ironie des Schicksals. Kein noch so hoher Alkoholpegel hatte sie zur Strecke bringen können. Das musste sie schon selbst in der Klapsmühle erledigen, in die wir sie so oft zum Ausnüchtern gebracht hatten.
Einige Wochen nach Charlines Tod brachten wir ihren Ehemann ebenfalls in die Anstalt am anderen Ende unserer Stadt. Auch er hat dieses Krankenhaus danach nicht mehr verlassen. Vermutlich lebt der Typ noch heute dort, und vermutlich existiert Charline in seiner Welt weiter.
Meine verlorene Wette habe ich mit Lenny zusammen übrigens noch am selben Abend im Irish Pub eingelöst. Wettschulden sind schließlich Ehrenschulden.
Abenteuer Notrufhotline
Um die Jahrtausendwende herum hatte ich die Gelegenheit, zwei Jahre lang nebenberuflich in einer deutschen Rettungsleitstelle zu arbeiten und somit auch eine andere Seite des Notfallgeschehens kennenzulernen. Dort war es meine Aufgabe, Notrufe von Anrufern entgegenzunehmen, die selbst krank oder verletzt waren oder Hilfe für jemand anderen brauchten.
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, wie man so etwas nebenbei machen kann. Die Frage ist berechtigt. Eine Notfallsituation zu erkennen und dabei mehrere Tätigkeiten gleichzeitig durchzuführen stellt hohe Anforderungen an einen Leitstellenmitarbeiter, denen man nur durch jahrelange Routine gerecht werden kann. Stellen Sie sich vor, Sie müssten Daten nach bestimmten Kriterien filtern, die Informationen in eine Maske tippen und gleichzeitig aufmerksam mit einem Anrufer sprechen – da gerät man sehr schnell ins Schleudern. Erschwerend kommt die Nervosität des Anrufers hinzu, der alle Informationen auf einen Schlag loswerden möchte. Sie müssen das Gespräch so lenken, dass Sie alle nötigen Fakten bekommen und auch erfassen können – und dies in möglichst kurzer Zeit. Sowohl der Telefonist als auch der Disponent einer Leitstelle müssen in der Lage sein, den Überblick zu behalten, um die Situation richtig einschätzen zu können. Während der Telefonist in der Regel die Verbindung zum Anrufer übernimmt, alarmiert
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