Sie sehen aber gar nicht gut aus!
sollen, ob er auch eine haben wollte. Natürlich hätte er gewollt. Zum allerersten Mal in meinem Leben verfluchte ich, dass ich nicht rauchte. Keine Zigarette, kein Zeitschinden. Bertrams Blick wandte sich dem Boden zu.
»Ich habe keine Lust mehr. Ich kann auch nicht mehr. Warum weitermachen, wenn das Aufhören so einfach ist?« Der letzte Satz kam so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
In genau diesem Moment trat eine Blockade bei mir ein. Ich war plötzlich unfähig, noch einen vernünftigen hilfreichen Satz zu formulieren. Der passende Zeitpunkt für psychologische Unterstützung war gekommen. Ich musste jetzt eigentlich reden. Ich spürte, dass Schweigen in diesem Moment fatal war, aber mein Hirn war blockiert – der klassische Blackout.
Für einen Moment unaufmerksam, streifte mein Blick den Horizont und visierte die Silhouette der Stadt an. Bertram zog derweil eine schwarze Plastikrose aus der Innentasche seines Jacketts und hielt sie in seiner ausgestreckten Hand. Nur das Pfeifen des Windes war zu hören. Es verstrich eine Minute des Schweigens, dann ging alles ganz schnell.
»Das Panorama der Stadt ist wunderschön«, meinte Bertram, während ihm Tränen über das Gesicht liefen. »Der blaue Himmel ist so, wie ich ihn mir für heute gewünscht habe.«
Dann trat er über den Rand der Dachbegrenzung und fiel lautlos in den Tod.
Im Moment des Fallens schien die Stadt den Atem anzuhalten. Für mich dauerte es Minuten, bis ein dumpfes Klatschen zu hören war und ich wusste, dass es vorbei war. In Wirklichkeit waren es aber nur Sekunden. Für einen Augenblick war es so, als hätte ich selbst den Schritt über die Schwelle getan und wäre gesprungen. Mein Tinnitus schmerzte, während ich an den Rand des Daches kroch und Bertram mit zerplatztem Kopf unten liegen sah. Ich hatte ihn verloren.
Wenn ein Mensch wie Bertram den definitiven Entschluss zum Sprung in die Tiefe gefasst hat, hat der betroffene Helfer vor Ort fast keine Chance zur erfolgreichen Intervention. Wichtig ist zu verstehen, dass der Versuch eines Freitodes zumeist krankhaft ist. Das Vorhaben, sich selbst zu töten, ist in vielen Fällen das Symptom einer psychischen Störung. Durch deren Behandlung kann der Hang zum Selbstmord erheblich reduziert werden. Die Rückfallquote ist leider trotzdem sehr hoch. Das präsuizidale Syndrom schließt aus, dass der potenzielle Selbstmörder angemessen über sich und seinen eigenen Zustand urteilen kann – er gilt in diesem Moment als unzurechnungsfähig.
Am Himmel zog ein Flugzeug vorüber und schleppte einen weißen Schleier hinter sich her. Es roch nach Gegrilltem, und in der Ferne war ein Martinshorn zu hören – vielleicht das Psychologenteam. Die Gaffer starrten mich an, als ich durch die Eingangstür des Wedge-Gebäudes nach außen trat. Lenny empfing mich am Fuße des Hochhauses und meinte nur, mich treffe keine Schuld an Bertrams Tod. Das mochte sein, nützte Bertram aber nichts mehr.
Kindergeschrei und das Weinen umherstehender Menschen ließen mich trotz sommerlicher Temperaturen frieren, während zwei junge Polizisten Bertram mit einem Tuch abdeckten. Der Schreck stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sich das Tuch auf der einen Seite rot einfärbte. Die beiden Polizisten wünschten sich in diesem Moment ganz sicher auch, an einem anderen Ort zu sein.
Chemieunfall
Meinen Kollegen Manfred nannten alle nur Blaulicht-Manni. Er war ein drahtiger und quirliger Kerl, der seine allgemeine Missbilligung gegenüber allem gelegentlich durch cholerische Wutausbrüche zum Ausdruck brachte. Als Kaffee- und Zigarettenjunkie sah man ihn fast nie ohne seine geliebte Giftnudel in der einen und eine Tasse heißen schwarzen Wachmacher in der anderen Hand. Dass seit einiger Zeit Rauchverbot in allen Bereichen der Wache herrschte, störte Manni natürlich außerordentlich. Regelmäßig durften wir deshalb an lautstarken Verbalentgleisungen teilhaben. Seine Eskalationen endeten zumeist in der Feststellung, an welchem Körperteil man ihn bei gegensätzlicher Meinung lecken könne. Seitdem man ihm seine Steigbügel im Innenohr durch etwas Künstliches ersetzen musste, hörte Manni auch noch schlecht. Ich gönnte es ihm wirklich sehr, als er zwei Jahren später in den Ruhestand gehen konnte.
Wir schreiben den 2. August. Lkw-Fahrer Peter war an diesem Nachmittag unterwegs, um seine Lieferung zum Auftraggeber zu bringen. Sein Lkw war ein 27 Tonnen schweres Vehikel mit einem Anhänger, in dem sich alle
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