Sie sehen aber gar nicht gut aus!
Nasenspitze auf, das besonders empfindlich auf den durch die flachere Atmung verursachten Sauerstoffmangel reagiert. Es war auffallend weiß geworden und kündigte den bevorstehenden Tod an. Lenny stellte das EKG auf dem Boden ab und schloss die vierpolige Ableitung an Frau Heiners Körper an.
Auf Fotos auf dem Sideboard sah ich ein junges Paar, vermutlich die Enkelin mit ihrem Mann. Sie lächelten uns an und hatten die letzten Jahre hoffentlich Fröhlichkeit in Frau Heiners Leben gebracht. Einige Fotos zeigten eine gut gelaunte Frau Heiner – die Erinnerung an bessere Zeiten, als sie noch alles selbst hatte unternehmen können. Sie war bereits vor einigen Jahren in dieses Pflegeheim gezogen, weil sie ihren körperlichen und geistigen Verfall nicht hatte abwarten wollen. Ihr war es bis zu diesem Tag gut gegangen.
Das EKG zeigte eine Herzfrequenz von 45. Ich tastete nur leichten Puls am Handgelenk. Die Pflegerinnen irritierte unser langsames Arbeitstempo.
»Frau Heiner stirbt.« Ich blickte nach kurzer Pause in die Runde der Frauen, die am Fußende des Bettes verharrten. Eine Pflegerin fing an zu weinen. Die beiden anderen sahen mich an und sagten nichts. Es gab keine Patientenverfügung.
»Frau Heiner ist fast 100 Jahre alt und längst auf der Zielgeraden ihres Lebens angekommen. Besser konnte es für sie nicht laufen.« Ich sprach etwas langsamer, weil ich merkte, dass den Pflegerinnen das drohende Ableben von Frau Heiner sehr nahezugehen schien. Natürlich ist es im Rettungsdienst einfacher. Wir sehen Patienten immer nur eine kurze Zeit. Nach einer Stunde können wir sie im Krankenhaus abgeben und uns wieder in die Wache trollen. Altenpflegerinnen haben mit ihren alten Menschen dagegen sehr viel länger zu tun. Dabei entwickeln sich automatisch eine persönliche Beziehung und ein enges Verhältnis.
Die Pflegerinnen erzählten, dass Frau Heiner große Angst vor dem Sterben gehabt habe. Oft waren Notarzteinsätze daraus resultiert, dass Frau Heiner panisch in der Rettungsleitstelle angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Wenn die Besatzung dann bei ihr eingetroffen war, hatte niemand etwas feststellen können. In diesem Fall hatte Frau Heiner nichts davon mitbekommen, dass sie in die akute Phase des Sterbens eingetreten war. Sie lag auf dem Bett und atmete ganz ruhig, während der Blutdruck und die Herzfrequenz sanken.
Lenny telefonierte mit einem Disponenten. »Hier ist Lenny vom 1/83/1. Schick uns bitte einen Notarzt.«
»Was liegt vor?«, fragte der Disponent.
»Bevorstehendes Ableben.«
»Verstanden. Notarzt kommt.« Klick.
Die Herzfrequenz sank weiter auf 30 Schläge pro Minute. Die Linien des EKGs sahen seltsam deformiert aus. Frau Heiners Körper begann, letzte Signale auszusenden und die letzte Runde einzuläuten. Der Blutdruck war im Keller. Wir standen nur da und konnten ihr beim Sterben zusehen. Irgendwann betrat der Notarzt das Zimmer, erkannte die Situation und stimmte durch Nicken zu, keine Behandlung mehr durchzuführen. Einige wenige Atemzüge später war es zu Ende.
»Zeitpunkt des Todes ... 6.15 Uhr.« Der Notarzt schrieb sein Protokoll, während wir alle Kabel von Frau Heiners Körper entfernten. Die Pflegerinnen mussten nun die Angehörigen anrufen und sie ins Heim bitten. Eine Aufgabe, um die ich sie nicht beneidete.
Und Frau Heiner? Sie hatte es geschafft und war nach einem langen Leben sanft und ohne Schmerzen entschlafen. So, wie es sich bestimmt jeder von uns wünscht.
Sommertag
»Also, ich gehe jetzt«, sagte sie noch zu ihrer Mutter und warf ihr eine Kusshand zu. Sie wollte sich mit ihrem Freund treffen. Ihrem Noch-Freund, denn an diesem Tag wollte sie ihn verlassen. Dafür, die zweite Geige im Orchester zu spielen, war sie sich eindeutig zu schade. Hätte er sich endlich von seiner Ehefrau scheiden lassen, wäre sie bei ihm geblieben. Seitdem die beiden ein Paar waren, belastete sie außerdem sein zunehmend schlechter psychischer Zustand. Er litt unter Depressionen und zeigte sich emotional oft instabil. Eine Woche zuvor war er aus seiner Firma geschmissen worden. »Wir müssen reden!«, hatte sie zu ihm am Telefon gesagt. Und er hatte sofort gewusst, worum es ging.
Er fuhr zum Treffpunkt am Rande des Dorfes. Als auch sie dort ankam, schlug er sie und zerrte sie in seinen Wagen. Eigentlich war er sanftmütig. Niemand seiner Bekannten glaubte, dass er je einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Aber er konnte.
Sie hatte Angst. Der schwarze Kunststoffgriff der automatischen
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