Sie sehen aber gar nicht gut aus!
irgendwo in der Nähe des Lkws befinden, überhörte Manni geflissentlich.
»Dann verziehen Sie sich mal lieber, bevor Ihnen das Ding um die Ohren fliegt«, warnte der Disponent.
Nein, keine Warntafeln. Aber Manni konnte immerhin durchgeben, was auf dem Anhänger des Lkw stand. Vermutlich stockte dem kompletten Rettungsdienstbereich der Atem. Mittlerweile hatten sich auch nicht nur Polizei und Presse auf unseren Funk aufgeschaltet, sondern ebenfalls die oberste Rettungsdienstbehörde – das Innenministerium. Alle warteten. Vermutlich befand sich Acetonperoxid im Tank. Oder sogar Pikrinsäure. Womöglich auch Toluol, bei dessen Explosion man lieber dezent die Köpfe einziehen sollte. Oder, oder, oder.
Hätte Manni beim Familienurlaub in Rimini doch nur besser aufgepasst!
In geschwungener Schrift standen die Worte »Trasporto Latte« auf dem silbernen Tank. Milchlaster. Milch, die beim Auftreffen auf den knallheißen Asphalt sofort ausgeflockt war. Mit seiner Lagemeldung hatte Manni unseren Rettungsdienstbereich schlichtweg lächerlich gemacht.
Nach diesem Ereignis machten wir Manni regelmäßig und liebevoll kleine Präsente. Und zwar zu seinen Geburtstagen und den Jahrestagen des Milchlasterunfalls. Das erste Geschenk war ein kleines Taschenwörterbuch der italienischen Sprache. Manni hat dazu nicht viel gesagt. Außer dass wir ihn endlich in Frieden lassen sollten.
Letzte Ausfahrt Altenheim
Am Morgen des fünften Oktober lag der Schichtwechsel noch in weiter Ferne. Lenny und ich waren seit kurz nach 18 Uhr durchgefahren und hatten allmählich ziemlich Hunger. Die Uhr zeigte genau 4.01 Uhr.
Vor einer Minute hatte demnach unsere Lieblingsbäckerei geöffnet. Nicht den Haupteingang für den Kundenverkehr, sondern die Hintertür eigens nur für Retter und Polizisten. Wir steuerten also auf den Laden zu und stellten den Rettungswagen im Hof ab. Die Tür stand offen und lud uns ein einzutreten. Im grellen Licht waren die Gesellen zu sehen, die seit zwei Uhr frische Backwaren und vieles mehr produzierten. Schließlich wollten die Bürger pünktlich zum Frühstück mit frisch gebrühtem Kaffee ihre Brötchen genießen.
Mit dem Eintreten tauchten wir ein in einen Duft von frischem Brot, Croissants und Süßwaren, der unsere Nasenschleimhäute durchdrang und uns den Mund wässrig werden ließ. An diesem Tag musste es eine Marzipanstange sein: Zuckersüßer Blätterteig mit gerösteten Mandelblättchen und Puderzucker umgab den weichen, saftigen Kern aus Marzipanmasse. Ich schnappte mir gleich zwei Stück. Der Blätterteig war mittlerweile auf mundschleimhautverträgliche Temperatur abgekühlt. Ich biss also hinein. Meine obere Zahnreihe durchdrang den Blätterteig und knackte dabei einige Mandelblättchen. Dann trafen meine Zähne auf die Marzipanmasse, von der ich ein großes Stück auf einmal abbiss. Was ich in diesem Moment leider nicht bedacht hatte: Der Geselle hatte das Backblech erst kurz vorher aus dem Ofen genommen. Man muss in Physik nur ab und zu aufgepasst haben, um sich vorstellen zu können, dass die Abkühlzeit von luftigem Blätterteig im Vergleich zu einer dichten Marzipanmasse wesentlich geringer ist. Das Marzipan hatte noch geschätzte 80 Grad. Es war, als hätte ich ein Stück glühende Holzkohle aus dem Grill gefischt und versucht, davon abzubeißen. Kurzum: Ich habe mir so dermaßen die Klappe verbrannt, dass ich aufschrie. Lenny quittierte meinen Einsatz am Backblech lachend mit den Worten, mir würde schon niemand etwas wegessen. Ich solle mir doch Zeit lassen, da wir ja keinen Einsatz hätten. Und dass es einfach unmöglich sei, wie ich mit dem Essen umgehe. Ich warf die restliche Marzipanstange nach ihm und nannte ihn eine Napfsülze.
20 Minuten später alarmierte uns die Leitstelle. Im Altenheim sei jemand kollabiert. Als wir vor der Schiebetür des Heimes anhielten, erwartete uns bereits eine Pflegerin.
»Kommen Sie schnell. Ich glaube, Frau Heiner atmet nicht mehr.«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Meine Kollegin hat sie am Abend noch den Gang entlanglaufen sehen. Vorhin hatte sie einen sehr niedrigen Blutdruck.«
»Ist Frau Heiner ansprechbar?«
»Nein. Haben Sie keinen Notarzt dabei? Sie ist immerhin schon 95 Jahre alt.«
Schnell eilten wir in den ersten Stock und betraten das kleine Zimmer am Ende des Ganges. Frau Heiner lag im Pflegebett. Ihr Mund atmete die stickige Zimmerluft in flachen Zügen. Sofort fiel mir das magische Dreieck zwischen den Mundwinkeln und der
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