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Sie sehen aber gar nicht gut aus!

Sie sehen aber gar nicht gut aus!

Titel: Sie sehen aber gar nicht gut aus! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Strzoda
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stehen oder läuft langsamer ab als vorher. Farben und Atmosphäre verdichten sich, es wird kälter oder wärmer. Das kommt vermutlich daher, dass sich das eigene Gehirn in kurzer Zeit auf eine völlig neue Situation und Umgebung einstellen muss. Statt dem erwarteten Wohnzimmer gab es für uns nämlich zunächst einen Grasstreifen an der Straße. Und anstatt eines Sturzes aus dem Bett die Reanimation auf heißem Asphalt.
    Auf der Wiese vor dem Gut liefen Menschen durcheinander. Es waren die Völkners. Sie schrien und winkten uns zu, nachdem sie uns bemerkt hatten. Es war, als hätte uns der Himmel genau hier abgesetzt. Hinter den Völkners hatte sich die Pferdegemeinschaft in der Herde zusammengetan. 20 muskulöse Tiere bewegten sich wie zusammengekettet in gestrecktem Galopp über die Wiese genau auf uns zu. Nur um im richtigen Moment abzudrehen und das Spiel zu wiederholen.
    Die Tochter schrie um Hilfe, denn sie hatte den alten Mann kurz zuvor gefunden.
    »Ach du Scheiße, da liegt einer«, sagte Lenny und deutete auf den rechten Straßenrand, »halt an!«
    Ich konnte einen Hut und eine blaue Latzhose erkennen. Großvater Völkner lag neben der Straße, das Gesicht in den Rasen gedrückt. Zehn bis zwölf Sekunden nach Einsetzen des Kammerflimmerns hatten wohl Schwindel und eine kurze Atemnot bei ihm eingesetzt. Dann war sein Bewusstsein erloschen. Kammerflimmern stellt einen funktionellen Herzstillstand dar, bei dem die Herzmuskelzellen unkoordiniert arbeiten. Da dann kein Blut mehr durch den Organismus gepumpt wird, kommt es zur Bewusstlosigkeit. Die Arme lagen seitlich am Körper, offenbar hatte Großvater Völkner keine Zeit mehr gehabt, sich während des Fallens abzustützen.
    Ich hielt an. Lenny sprang aus dem Rettungswagen, checkte die Situation und drehte Großvater Völkner auf den Rücken. Puls? Atmung? Nichts da. »Reanimation!«, rief er mir zu, zückte die Kleiderschere und durchtrennte Latzhose und Hemd. Großvater Völkner lag nun mit nacktem Oberkörper da. Die Haut sah aus wie die hellgraue schmutzige Asphaltfläche einer Straße. Die Lippen erinnerten an eine fleischige Blutorange, die seit zehn Tagen geöffnet in der Sonne lag.
    Ab und zu gilt es, Flexibilität zu beweisen und umzudenken. Dass wir unterwegs auf einen viel schlimmeren Notfall treffen würden, hatte niemand von uns wissen können. Nun musste der ursprüngliche Einsatz auf jeden Fall von irgendjemand anderem bedient werden. Daher meldete ich mich bei der Einsatzstelle.
    »Leitstelle vom RTW 1/83/1.«
    »Sprechen Sie, 1/83/1.« Eine weibliche Stimme.
    »Eigenfeststellung. Markstein in Richtung Pleef – Reanimation auf der Straße. Wir können den anderen Notfalleinsatz nicht anfahren.«
    »1/83/1 – verstanden.« Kurzes Zögern. »Benötigen Sie dafür einen Notarzt?«
    Jeder, der sich ein wenig mit deutscher Gesetzgebung befasst hat – und bei einem Leitstellenmitarbeiter sollte das der Fall sein –, würde diese Frage entbehrlich finden. Denn eine akute Lebensgefahr zwingt eine Leitstelle dazu, einen Notarzt an die Einsatzstelle zu senden. Hier gibt es keinerlei Wahlmöglichkeit. Kurzzeitig hatte ich auf der Zunge liegen, dass der Notarzt natürlich überflüssig wäre. Aber ich hatte Angst, dass die Disponentin die Ironie nicht verstehen und uns dann tatsächlich keinen Notarzt schicken würde. Meine Antwort war deshalb ein knappes Ja.
    Lenny beatmete, ich führte die Herzdruckmassage durch. Die Intubation – Routine. Den Tubus fix durch die Stimmritzen geschoben und in der Luftröhre platziert – die Beatmung war gesichert. Durch Gabe von Adrenalin in die Vene versuchten wir, das Herz anzutreiben. Mit Erfolg, der EKG-Monitor zeigte kurze Zeit später ein Herzkammerflimmern. Ich griff mir die Paddels, drückte zum Hochladen den gummierten Knopf am Defibrillator.
    »Vorsicht, Defibrillation. Weg vom Patienten!«, warnte ich Lenny und alle umstehenden Menschen. Der Stromstoß kann einen Menschen mit Kammerflimmern zwar retten, aber er kann jemanden mit einem normalen Herzrhythmus auch töten. Deshalb darf niemand den Patienten während der Defibrillation berühren. Das hätte sonst schlimmere Folgen, als wenn man in eine Steckdose fassen würde.
    Die »Schock«-Taste feuerte 200 Joule lebensrettende Energie durch Großvater Völkners Körper, dessen Muskulatur beim Schock zusammenzuckte.
    Im Einsatz rede ich normalerweise mit Lenny nicht viel. Wir sind ein perfekt eingespieltes Team. Jeder von uns kennt seine Aufgabe und weiß,

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