Sie sehen aber gar nicht gut aus!
die Tochter anscheind ihre Ruhe haben. »Ein Feiertag ist doch kein Grund, jemanden in ein Krankenhaus zu fahren«, war meine Reaktion. Die Oma lächelte und verstand vermutlich überhaupt nicht, worum es in diesem Moment ging. »Stellen Sie sich doch mal vor: Ein Transport ist für Ihre Mutter total unangenehm.« Für uns übrigens auch. »Wir würden sie ins Krankenhaus bringen, sie würde dort untersucht.« Der Arzt würde aber nichts finden, wäre sauer auf uns und würde unsere Kompetenz infrage stellen. »Man wird vermutlich nichts finden. Ihre Mutter nimmt ein Medikament, das nächtliche Übelkeit hervorrufen kann. Ihr Hausarzt könnte ihr ein Mittel gegen diese Übelkeit geben«, fuhr ich fort. »Und wir könnten uns endlich wieder zurück ins Bett legen«, dachte ich.
Die Tochter legte die Stirn in Falten. Der Plan, die Mutter für ein paar erholsame Tage abzuschieben, drohte zu scheitern. Lenny befand sich bereits im Gespräch mit dem Bereitschaftsdienst. In der nächsten Viertelstunde erwarteten wir den Arzt. Eine Viertelstunde kann ganz schön lang werden, wenn man bereits alles Nötige getan und untersucht hat – besonders zu solch einer frühen Stunde. Lenny trat auf der Stelle. Durch den Schichtdienst der letzten zwei Wochen war er müde und ungeduldig wie ein kleines Kind. Irgendwann stellte er sich genau vor die Patientin und musterte sie. Ihr Bauch hatte es ihm dabei offenbar besonders angetan. Er trat schließlich auf die alte Dame zu und piekte ohne Ankündigung mit ausgestrecktem Zeigefinger in den Hügel, der wie ein Artefakt in der Bauchmitte zur Erkundung einlud. Er war weich. »Was ist denn das da?« Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus. Die alte Dame blickte nun nicht mehr genervt, sondern verzückt zu Lenny, die Tochter stand mit aufgerissenen Augen da und wirkte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Bei der 80-jährigen Dame hatte die Zeit eben ihre Spuren hinterlassen. Kein frischer Teint mehr. Und natürlich hätte sie die physikalischen Gesetze durch einen perfekt sitzenden BH überlisten können, doch den besaß sie offensichtlich nicht. Und wo keinerlei Spannung mehr vorhanden ist, da fällt eben alles nach den Regeln der Erdanziehungskraft. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, und auch meine Müdigkeit war wie weggefegt. Meine Augen wanderten langsam zur Tochter, und ich wartete gespannt auf ihre Reaktion.
»Nun ... das da ist eine weibliche Brust.«
Ihre Antwort schlug in die entstandene Stille ein wie ein Hammer beim Hau-den-Lukas. Lennys Kopf glich nun einem Feuerwehrauto, dem nur das Blaulicht fehlte. Doch anstatt jetzt einfach nichts mehr dazu zu sagen und den Fuß aus dem Fettnapf herauszuziehen, manövrierte Lenny sich noch tiefer hinein. Die Bemerkung, er habe während der Untersuchung ursprünglich an einen Krebstumor oder so etwas Ähnliches gedacht, trug nicht gerade zur Entspannung der Lage bei.
Nach weiteren fünf Minuten schweigsamen und peinlich berührten Wartens klingelte es an der Haustür. Endlich. Der ärztliche Bereitschaftsdienst war ebenfalls der Meinung, die Patientin solle über die Feiertage besser zu Hause bleiben. Also fuhren wir wieder zurück zur Wache und konnten endlich zurück in unsere Betten. Und Lenny hatte sich einen neuen Spitznamen erworben. Er war nun der Titty-Twister.
Der Aussteiger
Thomas hatte viele dieser leuchtend gelben Zettel geschrieben und sie anschließend in der ganzen Wohnung verteilt. Außer ihm war derzeit niemand zu Hause. Er hatte nicht aufgeräumt und sich auch sonst keinerlei Gedanken über seine Mutter gemacht. Auch nicht darüber, wie sie sich wohl danach fühlen würde. Und schon gar nicht über seinen Vater, der schon längst abgehauen war. Thomas war sich sicher, dass seine Mutter erst am späten Abend heimkommen würde. Als die hässliche grüne Uhr mit dem roten Kuckuck im Wohnzimmer an diesem sonnigen Nachmittag 16 Uhr schlug, schritt er zur Tat.
Thomas hatte einige Wochen zuvor seine Lehrstelle verloren, weil in der Lackiererei Personal abgebaut werden musste. Der Job wäre perfekt für Thomas gewesen, der nach seiner Entlassung schlimme Zeiten auf sich zukommen sah. Zwar war er erst 19 Jahre alt, aber er wähnte sich vor dem Nichts und ohne Chance, jemals wieder mehr erreichen zu können. Einer seiner Hausärzte hatte vor Monaten eine latente Depression diagnostiziert, aber Thomas glaubte, es besser zu wissen. Er meinte, sich nur überarbeitet zu haben. Seine Medikamente gegen die Depression
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