Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie sehen dich

Sie sehen dich

Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
die Hand ausstrecken und sie berühren. Im Krankenhaus hätte er das wahrscheinlich auch gemacht. Ärzte machten so etwas. Hier im Garten funktionierte das allerdings nicht. Stattdessen zog er sich auf einen stereotypen Satz zurück: »Dr Goldfarb und ich tun alles, was in unserer Macht steht.«
    »Ich weiß, Mike.«
    Ihr zehnjähriger Sohn Lucas litt an fokal segmentaler Glomerulosklerose  – kurz FSGS  – und brauchte dringend eine Nierentransplantation. Mike war einer der führenden Spezialisten für Nierentransplantationen im ganzen Land, diesen Fall hatte er jedoch seiner Partnerin Ilene Goldfarb übergeben. Ilene war die Leiterin der Transplantationschirurgie im New York Presbyterian Hospital und die beste Chirurgin, die er kannte.
    Ilene und er hatten es jeden Tag mit Menschen wie Susan zu tun. Er konnte jederzeit die klassische Platte über Trennung von Beruf und Privatleben abspielen, trotzdem nahmen die Todesfälle
ihn mit. Die Toten blieben bei ihm. Sie knufften ihn nachts. Sie zeigten mit den Fingern auf ihn. Sie gingen ihm auf die Nerven. Er konnte den Tod nicht mit offenen Armen empfangen, konnte ihn niemals akzeptieren. Der Tod war sein Feind  – ein ewiges Gräuel  –, und es kam überhaupt nicht in Frage, dass er einen Jungen an diesen Schweinehund verlor.
    Bei Lucas Loriman war das natürlich eine extrem persönliche Sache. Vor allem deshalb hatte er Ilene auch den Vortritt gelassen. Mike kannte Lucas. Lucas war ein kleiner Streber, dabei aber extrem liebenswürdig, mit kaum zu bändigenden Haaren und einer Brille, die ihm immer etwas zu weit auf die Nasenspitze rutschte. Er liebte Sport, war aber in allen Sportarten eine Niete. Wenn Mike in der Einfahrt mit Adam trainiert hatte, war er oft rübergekommen und hatte zugesehen. Mike hatte ihm einen Schläger angeboten, aber Lucas hatte abgelehnt. Offenbar war ihm schon viel zu früh bewusst geworden, dass er nicht zum aktiven Sportler geboren war, weshalb er sich auf die Reportage spezialisierte: »Dr Baye hat den Puck, er täuscht links an, der Schuss kommt nach unten rechts … wieder eine fantastische Parade von Adam Baye!«
    Mike hatte das Bild des netten Jungen, der die Brille hochschob, vor Augen, und bekräftigte innerlich noch einmal, dass es überhaupt nicht in Frage kam, diesen Jungen sterben zu lassen.
    »Kannst du schlafen?«, fragte Mike.
    Susan Loriman zuckte die Achseln.
    »Soll ich dir was verschreiben?«
    »Dante hält nichts von solchen Pillen.«
    Dante Loriman war ihr Mann. Mo gegenüber hatte Mike es zwar nicht zugeben wollen, aber seine Einschätzung war ein Volltreffer gewesen  – Dante war ein Arschloch. Auf den ersten Blick wirkte er ganz nett, aber nach einer Weile sah man, wie sein Blick starr wurde. Es gab Gerüchte, dass er Verbindungen zur Mafia hatte, die allerdings vermutlich nur auf Äußerlichkeiten beruhten.
Er gelte sich die Haare nach hinten, trug Muscle-Shirts, zu viel Schmuck und war zu stark parfümiert. Tia sprang irgendwie darauf an  – »das ist mal was anderes unter diesen ganzen wohlanständigen Bürgern«  –, aber Mike hatte immer den Eindruck, dass das alles nicht echt war, als ob das Machogehabe nur dazu diente, mit den anderen mithalten zu können, obwohl er wusste, dass es ihm nie gelingen würde.
    »Soll ich mit ihm reden?«, fragte Mike.
    Susan Loriman schüttelte den Kopf.
    »Ihr holt eure Medikamente beim Drug Aid in der Maple Avenue, oder?«
    »Ja.«
    »Ich hinterleg da ein Rezept für dich. Dann kannst du dir die Schlafmittel abholen.«
    »Danke, Mike.«
    »Wir sehen uns morgen Vormittag.«
    Mike ging zurück zum Wagen. Mo erwartete ihn dort mit verschränkten Armen. Er hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und hätte eine Verkörperung von Coolness abgeben können.
    »Eine Patientin?«
    Mike ging wortlos an ihm vorbei. Er sprach nicht über Patienten. Mo wusste das.
    Mike blieb vor dem Haus stehen und sah es einen Moment lang an. Warum, fragte er sich, wirkten Häuser genauso zerbrechlich wie seine Patienten? Wenn er nach rechts und links sah, standen auf beiden Seiten Häuser wie dieses, in denen Ehepaare wohnten, die von irgendwoher hier rausgefahren waren, sich auf den Rasen gestellt, das Gebäude angeguckt und gedacht hatten: Ja, hier werde ich leben, meine Kinder großziehen und unsere Träume und Hoffnungen verwirklichen und beschützen. Genau hier, in dieser holzverstärkten Seifenblase.
    Er öffnete die Tür. »Hallo?«
    »Daddy! Onkel Mo!«

    Jill, seine elfjährige

Weitere Kostenlose Bücher