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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Prinzessin, kam mit einem breiten Lächeln im Gesicht um die Ecke. Mike wurde warm ums Herz  – eine unwillkürliche und gewöhnliche Reaktion. Wenn eine Tochter ihren Vater so anlächelte, war dieser Vater, ganz egal, was er sonst machte, plötzlich ein König.
    »Hey, mein Schatz.«
    Jill umarmte erst Mike, dann Mo. Sie bewegte sich locker und ungezwungen, fast wie eine Politikerin in der Menge. Hinter ihr stand ihre Freundin Yasmin, die allerdings fast schon ein wenig geduckt wirkte.
    »Hi, Yasmin«, sagte Mike.
    Yasmins Haare hingen wie ein Schleier vor ihrem Gesicht. Sie flüsterte kaum hörbar: »Hi, Dr Baye.«
    »Müsstet ihr jetzt nicht beim Tanzkurs sein?«, fragte Mike.
    Jill knallte Mike mit einem Blick, den eine Elfjährige noch längst nicht beherrschen durfte, einen vor den Latz. »Dad«, flüsterte sie.
    Dann fiel es ihm wieder ein. Yasmin hatte mit dem Tanzen aufgehört. Yasmin hatte mit so ziemlich allem aufgehört. Vor ein paar Monaten war in der Schule etwas vorgefallen. Ihr Lehrer Mr Lewiston, eigentlich ein guter Mann, der auch gerne mal die ausgetretenen Pfade verließ, um das Interesse der Schüler aufrechtzuerhalten, hatte eine unpassende Bemerkung über Yasmins Gesichtsbehaarung gemacht. An die Details konnte Mike sich nicht mehr genau erinnern. Lewiston hatte sich sofort entschuldigt, die Bemerkung ließ sich aber nicht ungeschehen machen und hatte Yasmin in ein vorpubertäres Trauma versetzt. Die Klassenkameraden nannten Yasmin seitdem »XY«, in Anspielung auf das männliche Chromosomenpaar, oder auch nur »Y«, was sie zu einer Abkürzung für Yasmin verklären konnten, womit sie sie aber eigentlich nur aufziehen wollten.
    Kinder können grausam sein.
    Jill hielt zu ihrer Freundin und arbeitete hart daran, dass Yasmin
weiter dazugehörte. Mike und Tia waren stolz auf ihre Tochter. Yasmin hatte aufgehört, aber Jill machte der Tanzkurs immer noch Spaß. Häufig konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Jill alles, was sie tat, Spaß machte. Sie ging jeder Tätigkeit mit so viel Energie und Begeisterung nach, dass sie alle um sich herum mitriss. Das war auch mal ein gutes Beispiel für den Einfluss von Vererbung und Erziehung: Zwei Kinder, Adam und Jill, die von den gleichen Eltern erzogen worden waren, und absolut gegensätzliche Charaktere entwickelt hatten.
    Am Ende siegte immer die Natur.
    Jill streckte den Arm nach hinten und ergriff Yasmins Hand. »Komm«, sagte sie.
    Yasmin folgte ihr.
    »Bis später, Daddy. Tschüss, Onkel Mo.«
    »Tschüss, meine Kleine«, sagte Mo.
    »Wo geht ihr hin?«, fragte Mike.
    »Mom hat gesagt, wir sollen rausgehen. Wir fahren ein bisschen Fahrrad.«
    »Denkt an die Helme.«
    Jill rollte die Augen, allerdings auf eine ironische, gutmütige Art.
    Kurz darauf kam Tia aus der Küche und sah Mo stirnrunzelnd an. »Was will der denn hier?«
    Mo sagte: »Ich hab gehört, dass ihr eurem Sohn nachspioniert. Nett.«
    Der Blick, mit dem Tia Mike daraufhin ansah, brannte sich förmlich in sein Kinn. Mike zuckte die Achseln. Das war eine Art ewiger Tanz zwischen Mo und Tia  – offen dargebotene Feindseligkeit, aber im Schützengraben hätten sie sich gegenseitig bis aufs Blut verteidigt.
    »Ich halte das übrigens für eine gute Idee«, sagte Mo.
    Das überraschte beide. Sie sahen ihn an.
    »Was ist? Hab ich Marmelade im Gesicht?«

    Mike sagte: »Hattest du nicht gerade noch gesagt, dass wir überfürsorglich sind?«
    »Nein«, sagte Mo. »Ich hab gesagt, dass Tia überfürsorglich ist.«
    Wieder warf Tia Mike einen finsteren Blick zu. Jetzt wusste er wieder, von wem Jill gelernt hatte, ihren Vater mit einem Blick zum Schweigen zu bringen. Jill war die Schülerin, Tia die Lehrmeisterin.
    »In diesem Fall«, fuhr Mo fort, »so ungern ich das auch zugebe, hat sie allerdings Recht. Ihr seid seine Eltern. Ihr müsst über alles Bescheid wissen.«
    »Du meinst nicht, dass er ein Recht auf seine Privatsphäre hat?«
    »Ein Recht auf was?« Mo runzelte die Stirn. »Er ist ein dummer Junge. Passt auf, alle Eltern spionieren ihren Kindern auf die eine oder andere Art nach, oder? Das ist euer Job. Ihr kriegt schließlich auch seine Zeugnisse zu sehen. Ihr sprecht mit den Lehrern darüber, wie er sich in der Schule macht. Ihr entscheidet, was er isst, wo er wohnt und so weiter. Also ist das nur der nächste, logische Schritt.«
    Tia nickte.
    »Ihr sollt eure Kinder nicht verhätscheln, sondern erziehen. Und die Eltern entscheiden darüber, wie viel

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