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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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nicht religiös und glaubte nicht an psychische oder sonstige übersinnliche Kräfte, handelte aber weder im privaten noch im beruflichen Bereich gern gegen das, was man vielleicht als »Schwingungen« bezeichnen konnte. Manche Dinge »fühlten sich einfach nicht richtig an«. Das konnten sowohl medizinische Diagnosen als auch die Auswahl der Strecke bei einer längeren Autofahrt sein. Manchmal lag einfach etwas in der Luft, ein Knistern, eine Ahnung. Mike hatte allerdings auch gelernt, dass er dieses Gefühl bewusst ignorieren konnte.
    Aber im Augenblick schrien diese Schwingungen, dass sein Sohn in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.
    Also musste er ihn suchen.
    Wie?
    Er hatte keine Ahnung.
    Er ging die Straße zurück. Mehrere Prostituierte sprachen ihn an. Die meisten schienen Männer zu sein. Ein Mann im Geschäftsanzug behauptete, eine bunt gemischte Gruppe »absolut heißer, junger Damen zu repräsentieren«. Mike müsse ihm nur eine Liste mit körperlichen Eigenschaften und seinen Vorlieben geben, damit besagter Repräsentant ihm genau die passende Partnerin oder Partnerinnen besorgte. Mike hörte sich den kurzen Verkaufsvortrag erst an, bevor er das Angebot ausschlug.
    Dann suchte er weiter. Ein paar junge Mädchen runzelten die Stirn, als sie seine Blicke spürten. Er sah sich um und merkte, dass er wohl fast zwanzig Jahre älter als jeder andere auf der belebten Straße war. Außerdem fiel ihm auf, dass jeder Club seine Klientel ein paar Minuten oder noch länger warten ließ. Einer hatte
eine jämmerliche, vielleicht einen Meter lange Samtkordel, hinter der jeder, der in den Club wollte, mindestens zehn Sekunden lang warten musste, bevor die Tür geöffnet wurde.
    Als Mike sich abwandte, sah er etwas im Augenwinkel.
    Eine Jacke in den Farben der Highschool-Mannschaft.
    Er drehte sich um und sah DJ Huff in die entgegengesetzte Richtung gehen.
    Zumindest sah der Junge aus wie DJ Huff. Er hatte die Mannschaftsjacke, die er sonst immer trug, über die Schulter geworfen. Dann war er das vielleicht gar nicht. Wahrscheinlich sogar.
    Doch, dachte Mike: Natürlich ist das DJ Huff.
    Er war in einer Seitenstraße verschwunden. Mike beschleunigte seinen Schritt und folgte ihm. Als er den Jungen aus den Augen verlor, fing er an zu laufen.
    »Brrr! Immer mit der Ruhe, Opilein!«
    Er war in einen Jugendlichen mit kahlrasiertem Kopf und einer Kette zwischen Unterlippe und Ohr gerannt. Seine Kumpel lachten über den Opa-Spruch. Mike runzelte die Stirn und wand sich an ihm vorbei. Hier war die Straße rappelvoll und schien mit jedem Schritt voller zu werden. An der nächsten Kreuzung hatte er dann den Eindruck, dass der Anteil schwarz gekleideter Gruftis  – ups, Emos  – zugunsten weiterer Latinos abnahm. Mike schnappte ein paar spanische Gesprächsfetzen auf. Die babypuderweißen Gesichter wurden durch olivfarbene ersetzt. Die Männer trugen Hemden, bei denen sämtliche Knöpfe offen standen, um das strahlend weiße Feinrippunterhemd zu präsentieren. Die Frauen waren salsa-sexy, nannten die Männer »Coños« und trugen so eng anliegende Kleidung, dass Mike unwillkürlich an Wurstpellen denken musste.
    Vor Mike bog DJ Huff nach rechts in eine andere Straße ein. Er schien zu telefonieren. Mike versuchte, näher an ihn heranzukommen … Aber was sollte er machen, wenn er ihn einholte? Auch da bestand die Möglichkeit, ihn zu packen und
»Hahaah!« zu rufen. Na ja. Vielleicht sollte er ihm einfach folgen und gucken, wo er hinging. Mike wusste nicht, was passierte, es gefiel ihm aber ganz und gar nicht. Angst machte sich in seinem Hinterkopf breit.
    Er bog nach rechts ab.
    Und DJ Huff war verschwunden.
    Mike blieb stehen. Er überlegte, wie groß der Abstand gewesen und wie viel Zeit vergangen war, seit DJ um die Ecke gebogen war. Ein paar Meter vor ihm war ein Club. Das war die einzige sichtbare Tür. Also musste DJ Huff da reingegangen sein. Die Schlange vor dem Club war lang  – die längste, die Mike bisher gesehen hatte. Da standen mindestens hundert junge Leute. Eine ziemlich gemischte Gruppe aus Emos, Latinos, Afroamerikanern und sogar ein paar übrig gebliebene Yuppies.
    Aber hätte Huff sich nicht hinten an der Schlange anstellen müssen?
    Vielleicht nicht. Hinter einer Samtkordel stand ein besonders großer Türsteher. Eine Stretchlimousine fuhr vor. Zwei langbeinige junge Frauen stiegen aus. Ein Mann, der fast dreißig Zentimeter kleiner als die Frauen war, nahm seinen offenbar angestammten Platz

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