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ihre Sorglosigkeit gesehen und wollte daran teilhaben. Ihm wurde klar, dass er weit überdurchschnittlich intelligent war. Er war ein Einserschüler mit fast perfekten Ergebnissen in den Universitätszulassungstests. Er hatte sich im Williams College immatrikuliert und dort einen Abschluss in Philosophie gemacht – wobei er die ganze Zeit versucht hatte, den Wahn im Zaum zu halten. Aber der Wahn drängte nach außen.
Und warum sollte er ihn nicht ausleben?
Er besaß einen primitiven Instinkt, seine Eltern und Geschwister zu schützen, aber der Rest der Weltbevölkerung war ihm egal. Sie waren nur Kulisse, Requisiten, mehr nicht. Die Wahrheit war – eine Wahrheit, die er schon früh erkannt hatte –, dass es ihm gewaltige Freude machte, anderen Leid zuzufügen. Das war schon immer so gewesen. Warum, wusste er nicht. Manche Menschen
ziehen Freude aus einer sanften Meeresbrise, aus einer herzlichen Umarmung oder daraus, den entscheidenden Korb in einem Basketballspiel geworfen zu haben. Nash zog seine Freude daraus, die Erde von einem weiteren Bewohner zu befreien. Das hatte er sich nicht gewünscht oder ausgesucht, er musste aber hinnehmen, dass es so war. Manchmal gelang es ihm, dagegen anzukämpfen, manchmal auch nicht.
Dann hatte er Cassandra kennen gelernt.
Es war wie bei einem von diesen wissenschaftlichen Experimenten gewesen, wo man zu Anfang eine klare Flüssigkeit hatte, dann tat jemand einen Tropfen hinein – einen Katalysator –, wodurch sich schlagartig alles veränderte: die Farbe, die Textur und die Struktur. So kitschig das auch klang, aber Cassandra war sein Katalysator gewesen.
Er hatte sie gesehen, sie hatte ihn berührt, und er hatte sich verwandelt.
Plötzlich konnte er lieben. Die Liebe war da. Er hatte Hoffnungen und Träume, den Wunsch aufzuwachen und sein Leben mit einem anderen Menschen zu teilen. Sie hatten sich im zweiten Studienjahr auf dem Williams College kennen gelernt. Cassandra war schön, aber es steckte noch mehr dahinter. Alle Jungs waren in sie verknallt, aber nicht im Sinne der sexuellen Fantasien, wie man sie von Studenten erwartet. Mit ihrem eigentümlichen Gang und dem wissenden Lächeln war Cassandra eher die Frau, mit der man eine Familie gründen wollte. In ihrer Gegenwart dachte man an einen Hauskauf, ans Rasenmähen, an Grillabende mit der Familie und Freunden, und daran, wie man ihr den Schweiß von der Stirn wischte, während sie das gemeinsame Kind zur Welt brachte. Alle waren hingerissen von ihrer Schönheit, noch beeindruckender war aber ihre Güte. Sie war etwas ganz Besonderes und konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, was man auch instinktiv spürte.
Und etwas davon hatte er auch in Reba Cordova entdeckt, nur
ein kleines bisschen, und dann hatte er einen Stich verspürt, als er sie umgebracht hatte, nicht schlimm, aber einen kleinen Stich. Er dachte daran, was ihr Mann jetzt durchmachte, denn obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte, wusste Nash doch, wie man sich in so einer Situation fühlte.
Cassandra.
Ihre fünf Brüder hatten sie verehrt, genau wie ihre Eltern sie verehrt hatten, und immer, wenn man an ihr vorbeiging und sie einen anlächelte, selbst wenn man ein Fremder war, spürte man tief im Herzen einen Ruck. In ihrer Familie hieß sie nur Cassie. Nash gefiel das nicht. Für ihn war sie Cassandra, und er liebte sie, und an dem Tag, an dem er sie heiratete, verstand er, was die Menschen meinten, wenn sie von jemandem sagten, er wäre »gesegnet«.
Sie waren zu den jährlichen Homecoming-Feiern und zu den Jubiläen ihres Semesters zum Williams College zurückgekehrt und hatten dann immer im Porches Inn in North Adams übernachtet. Er hatte das Bild von ihr noch vor Augen, als sie ihm in dem grauen Haus den Kopf auf den Bauch gelegt hatte, den Blick zur Decke gerichtet, während er ihre Haare streichelte und sie sich über Gott und die Welt unterhielten. So sah er sie jetzt, wenn er an sie dachte, das war das Bild, das er von ihr hatte – bevor sie krank geworden war und die Ärzte sagten, sie hätte Krebs, worauf sie seine schöne Cassandra aufgeschnitten hatten und sie gestorben war, genau wie jeder andere bedeutungslose Organismus auf diesem winzigen Staubkorn von einem Planeten.
Ja, Cassandra war gestorben, und seitdem war er sicher, dass alles Scheiße war, ein schlechter Witz, und als sie dann tot war, hatte Nash nicht mehr die Kraft, sich um den Wahn in sich zu sorgen. Es war nicht nötig. Also ließ er ihn
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