Sie sehen dich
durchgedreht, weil er ein Foto von seinem toten Freund gesehen hat.«
»Könnte sein«, stimmte Betsy in einem Ton zu, der eindeutig besagte: Auf keinen Fall.
»Und du bist sicher, dass das Foto an dem Abend gemacht wurde, als er gestorben ist?«
»Ja.«
Tia nickte. Beide schwiegen. Sie waren wieder im Haus der Bayes. Jill sah oben fern. Ein paar Geräuschfetzen von Hannah Montana drangen nach unten. Tia saß reglos da. Genau wie Betsy Hill.
»Und was bedeutet das jetzt deiner Meinung nach, Betsy?«
»Alle haben gesagt, dass sie Spencer an dem Abend nicht gesehen haben. Dass er allein war.«
»Und du glaubst jetzt, sie haben ihn gesehen.«
»Ja.«
Tia drängte ein bisschen. »Und was bedeutet es, wenn er nicht allein war?«
Betsy überlegte. »Das weiß ich nicht.«
»Du hast doch eine Selbstmordnachricht gekriegt, oder?«
»Als Textnachricht. Die kann jeder schicken.«
Wieder wurde Tia bewusst, dass sie beide als Mütter nicht die gleichen Interessen hatten. Wenn das stimmte, was Betsy Hill über das Foto sagte, dann hatte Adam gelogen. Und wenn Adam
gelogen hatte, wusste eigentlich niemand, was an dem Abend wirklich passiert war.
Also erzählte Tia Betsy nichts von Adams Chat mit CeeJay8115 und der Zeile über die Mutter, die ihn nach der Schule abgefangen hatte. Wenigstens noch nicht. Erst musste sie noch mehr wissen.
»Ich hab damals ein paar Zeichen übersehen«, sagte Betsy.
»Zum Beispiel?«
Betsy Hill schloss die Augen.
»Betsy?«
»Ich hab ihm mal nachspioniert. Na ja, eigentlich nicht richtig spioniert, aber … Spencer hat an seinem Computer gesessen, und als er aus dem Zimmer gegangen ist, hab ich mich einfach reingeschlichen. Weil ich sehen wollte, was er sich so anguckt. Na ja, du kennst das ja. Das hätte ich natürlich nicht machen dürfen. Das war falsch – so in seine Privatsphäre einzudringen.«
Tia sagte nichts.
»Auf jeden Fall hab ich ein paarmal auf den Zurück-Button geklickt, du weißt schon, oben im Browser?«
Tia nickte.
»Und da … Er hatte sich ein paar Selbstmord-Internetseiten angesehen. Da waren wohl Geschichten von Jugendlichen drauf, die sich umgebracht hatten. So was. Ich hab da nicht lange gelesen oder so. Ich bin auch nicht aktiv geworden. Ich hab es einfach verdrängt.«
Tia sah sich Spencer auf dem Foto an. Sie suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass dieser Junge ein paar Stunden später tot sein würde. Als ob man ihm das irgendwie am Gesicht ansehen könnte. Sie entdeckte nichts, aber was hieß das schon?
»Hast du Ron das Foto gezeigt?«, fragte sie.
»Ja.«
»Was hat er dazu gesagt?«
»Er meinte, dass das doch eigentlich keinen Unterschied macht. Er sagt, unser Sohn hat Selbstmord begangen, was willst
du da jetzt noch machen, Betsy. Er glaubt, ich mache das, um die ganze Sache abzuschließen.«
»Stimmt das nicht?«
»Abschließen«, wiederholte Betsy, sie spie das Wort fast aus, als ob sie einen schlechten Geschmack im Mund hätte. »Was soll das überhaupt heißen? Also ob da irgendwo vor mir eine Tür wäre, durch die ich hindurchgehe und dann hinter mir abschließe. Und Spencer bleibt dahinter auf der anderen Seite? Das will ich nicht, Tia. Kannst du dir etwas Obszöneres vorstellen, als so eine Sache abzuschließen?«
Sie schwiegen wieder, so dass das lästige Tonspurlachen von Jills Fernsehserie das einzige Geräusch war.
»Die Polizei hält euren Sohn für einen Ausreißer«, sagte Betsy. »Und meinen hält sie für einen Selbstmörder.«
Tia nickte.
»Aber was ist, wenn sie Unrecht hat? Was ist, wenn sie bei unseren beiden Jungs Unrecht hat?«
24
Nash saß im Lieferwagen und überlegte, was er als Nächstes machen sollte.
Er war ganz normal aufgewachsen. Er wusste, dass diese Psychiatertypen diese Aussage gern genauer überprüfen und nach sexuellem Missbrauch, Ausschweifungen oder Auswüchsen religiösen Konservatismus suchen würden. Nash nahm an, dass sie nichts finden würden. Er hatte gute Eltern und Geschwister. Vielleicht zu gut. Sie hatten ihn gedeckt, wie es sich für eine ordentliche Familie gehörte. Vielleicht würden manche Leute das im Nachhinein als Fehler ansehen, aber es musste schon sehr viel passieren, bis die eigene Familie die Wahrheit akzeptierte.
Nash war intelligent und merkte daher schon früh, dass er das war, was manche Menschen »gestört« nannten. Es gab den alten Spruch vom Teufelskreis, in dem ein seelisch instabiler Mensch sich befand, weil seine Krankheit ihn daran hinderte,
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