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Sie und Allan

Sie und Allan

Titel: Sie und Allan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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sind. Dort lebt er, und dort formen sie ihn nach ihrem eigenen Willen, so wie ein Töpfer seinen Ton formt, doch ganz gleich, welche Gestalt er unter ihren Fingern anzunehmen scheint, immer bleibt er Gott, unendlich und unveränderlich. Trotzdem ist er der Sucher und der Gesuchte, das Gebet und seine Erfüllung, die Liebe und der Haß, die Tugend und das Laster, da die Alchimie seines Geistes all diese Dinge zu einem letztendlichen und ewigen Guten verwandelt. Denn der Gott ist in all diesen Dingen, und alle Dinge sind in Gott, den die Menschen mit so verschiedenen Roben bekleiden, und dessen Antlitz sie hinter zahllosen Masken verbergen.
    Im Baum fließt der Saft, doch was weiß der große Baum, den er ernährt, von diesem Saft? Im Schoß der Welt brennt das große Feuer, das Leben spendet, doch weiß das Feuer von der wunderbaren Erde, die es geschaffen hat und die es einst zerstören wird? Im Himmel ziehen die riesigen Kugeln durch den Raum und gönnen sich niemals Rast, doch was wissen sie von der Kraft, die sie in Bewegung gesetzt hat, und die eines Tages ihre machtvollen Bahnen unterbrechen oder sie auf einen anderen Kurs lenken wird? Deshalb ist dieser allgegenwärtige Gott von allem der Richter, oder vielmehr, nicht einer, sondern viele Richter, da er aus jeder lebenden Kreatur deren eigenen Richter macht, um nach den Gesetzen einer jeden Kreatur, welche der Gott von Anbeginn an für sie festgelegt und erlassen hat, Recht zu sprechen. Also existiert in der Brust einer jeden eine Regel, und durch diese Regel, die durch eine endlose Kette von Leben weitergereicht wird, soll sie am Ende zum Himmel emporgehoben oder gebunden und in die Hölle und in den Tod hinabgestoßen werden.«
    »Ihr meint das Gewissen, Ayesha?« meinte ich ziemlich matt, da ihre Worte und ihre Metaphern mich überwältigten.
    »Ja, das Gewissen, wenn du so willst und wenn du nur diesen Begriff verstehst, denn er paßt nur schlecht in mein Thema. Das ist es, was ich meine, doch jene Gewissen, wie du sie zu nennen beliebst, sind vielfältig. Ich habe eines, du, Allan, hast ein anderes, der schwarze Axt-Träger hat ein drittes, der kleine gelbe Mann ein viertes, und so weiter, und so weiter, durch die ganze Zahl der lebenden Kreaturen hindurch, denn selbst ein Hund, wie du ihn sahst, hat ein Gewissen und muß, genau wie du oder ich, am Ende sein eigener Richter sein, wegen des Funkens, der von oben auf ihn herabgekommen ist, wegen desselben Funkens, der in mir zu einem großen Feuer aufloderte, und in dir zu einer schwelenden Glut von grünem Holz geworden ist.«
    »Wenn Ihr eines kommenden Tages über Euch selbst zu Gericht sitzen werdet, Ayesha«, fuhr es mir heraus, »so werdet Ihr Euch hoffentlich daran erinnern, daß die Bescheidenheit nicht eben zu Euren Tugenden zählt.«
    Sie lächelte auf eine sehr lebhafte Art – nur zwei- oder dreimal habe ich sie so lächeln gesehen, und dann war es wie der Blitz eines Sommergewitters, der einen wolkenverhangenen Himmel erhellte, da ihr Gesicht sonst meistens ernst und sogar düster war.
    »Gut geantwortet«, sagte sie. »Wenn man einen Patienten genügend reizt, wird sogar er wild werden und mit den Hufen den Boden scharren.
    Bescheidenheit! Was habe ich damit zu schaffen? Laß die Bescheidenheit das Los der Kleinen und Niedrigen sein, doch solche, die herrschen, wie ich es tue, und deren gibt es nur wenige, laßt in dem Ruhm und dem Glanz erstrahlen, wie sie es verdienen. Damit habe ich dir die Wahrheit dessen gesagt, was du in deinen Träumen sahst, willst du jetzt auch die Lehre hören?«
    »Ja«, antwortete ich, »da ich es so rasch wie möglich hinter mich bringen möchte, und da es zweifellos gut für mich sein wird.«
    »Die Lehre, Allan, ist jene, die du predigst: Bescheidenheit. Eitel und närrisch wie du bist, wolltest du doch in die Unterwelt hinabsteigen, um solche zu suchen, die dir einmal alles bedeuteten – nein, nicht alles, da es zwei mehr von ihnen gab –, doch zumindest sehr viel. Das wolltest du tun, weil du sagtest, da du zu wissen verlangtest, ob sie noch immer lebten jenseits der Pforten des Dunkels. Ja, du sagtest dies, doch was du in Wirklichkeit erfahren wolltest, war etwas anderes. Du wolltest wissen, ob sie dort in dir weiterleben, und in dir allein. Denn so sahst du in deiner Eitelkeit diese davongegangenen Seelen, daß sie in dem Himmel, den sie erlangt hatten, nichts anderes tun würden, als an dich zu denken, der du noch immer auf der Erde vergraben bist, und

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