Sie und Er
nicht. Die Überholer gestikulieren wild, wenn sie schließlich rechts an ihm vorbeifahren: Sie zeigen ihm die Hörner, den Mittelfinger, schreien unhörbare, aber leicht vorstellbare Beleidigungen. Er dreht sich um, fixiert sie, fährt sich mit zwei Fingern über den Hals, um ihnen mimisch die Kehle durchzuschneiden. Die Geste dauert nur eine Sekunde, aber die Überholenden verlieren in dem Moment sichtlich die Fassung. In manchen Fällen bleiben sie etwas zurück, in anderen gestikulieren sie noch wütender und bremsen unvermittelt, sobald sie wieder vor ihm fahren, versuchen, ihn ins Schleudern zu bringen. Er reagiert genauso wüst wie sie oder noch wüster: Er würde auf sie schießen, wenn er eine Pistole oder ein Gewehr mit abgesägtem Lauf hätte oder noch lieber ein auf die Motorhaube montiertes Maschinengewehr oder eine Bazooka, die man per Knopfdruck am Steuer bedienen könnte. Ganz realistisch malt er sich den Knall aus, das Geräusch der splitternden Scheiben, das Quietschen der Räder, während das andere Auto sich querstellt und wegrutscht und gegen die Flanke eines Lastwagens oder eines anderen Autos oder gegen die Leitplanke prallt und eine katastrophale Kettenreaktion auslöst, in die er selbst verwickelt ist, falls es ihm nicht gelingt, sich mit erstaunlicher Promptheit im Zickzack zwischen den Wracks hindurchzuschlängeln. Er zweifelt nicht daran, dass seine Impulse den gleichen Ursprung haben wie die der Überholenden, aber dieses Wissen mindert keineswegs die Heftigkeit seiner Visionen, sondern verleiht ihnen letztlich eine noch destruktivere Note. Ebenso lebhaft stellt er sich vor, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen wegen des umfassenden Ekels, der ihn bis in die Knochen durchdringt. Er kann sich ausmalen, wie die Menschen, die er kennt, dann reagieren: seine Kinder, die vier oder fünf Frauen, mit denen er zu tun hat, seine zwei oder drei guten Freunde, seine Agentin, sein Verleger, ein paar Journalisten, die Besitzerin des ehemaligen Klosters auf den Bergen Liguriens, von wo er soeben geflüchtet ist, das slawische Zimmermädchen, das heute Morgen im Flur einen Strauß verwelkter Schwertlilien aus einer hässlichen Kristallvase genommen hat. Er fährt weiterhin stur zehn Kilometer über der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Überholspur, ohne zu weichen, egal, wie viel Druck die Autos hinter ihm ausüben, starrt weiterhin die Fahrer an, während sie ihn rechts überholen, und mimt die Geste des Kehledurchschneidens, spricht weiterhin die deutschen Sätze des alten, inzwischen verstorbenen Mannes nach, die ihm in den Ohrhörern vorgesagt werden.
Plötzlich ist die endlos wirkende Fahrt fast zu Ende: Er passiert die Mautstelle Mailand Südwest, lenkt das Auto über die Abzweigung zwischen den grauenhaften neuen Bürohochhäusern und den grauenhaften alten Motels und Industriehallen und Tankstellen. Während er zur Überführung hinauffährt, kommt ungeachtet aller Schilder hinter ihm wie eine Rakete ein schwarzer Mercedes mit blinkenden Scheinwerfern angeschossen, und da er nicht Platz macht, wechselt der Mercedes die Spur, um ihn mit dem üblichen wilden Manöver zu überholen. Er beschleunigt seinerseits und lenkt nach rechts, um dem anderen den Weg abzuschneiden; der schwarze Mercedes bremst, schleudert, verliert einen Augenblick die Kontrolle, fährt erneut auf die Überholspur und rast mit ohrenbetäubendem Hupen an ihm vorbei. Er tritt das Gaspedal durch, setzt auf der abfallenden Rampe der Überführung zur Verfolgung an. Er macht eine falsche Bewegung, oder vielleicht verlieren die Reifen in einer Pfütze die Bodenhaftung; der Jaguar wird nach links geschleudert, stößt an die Leitplanke, prallt ab nach rechts, verfehlt knapp einen weißen Fiat, stößt an die andere Leitplanke, schrappt seitlich daran entlang, stratastrock-straack-strackt-taatack, Eisen gegen Eisen, die Reibung von Blech an Blech zwischen einem Metallpfosten und dem nächsten. Er registriert die Richtungsänderungen und Bewegungen und Geräusche, vermischt mit den Spuren der Gedanken, die bis dahin seinen Kopf ausgefüllt haben, und mit dem Lärm des Autos und dem Prasseln des Regens und der Stimme des Herrn aus Polen mit dem falschen französischen Namen, der die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat und ihm in gelassenem Ton direkt ins Ohr sagt: »Wollen Sie heute Abend mit mir essen geben?«
Er dreht am Lenkrad und tritt das Bremspedal durch, doch das scheint keinen entscheidenden
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