Sie und Er
oder Schlafkasernen oder Labors für Tierversuche oder sonst irgendeine Bausünde, wie sie überall am südwestlichen Stadtrand zu finden sind. Sie will es gar nicht wissen, und außerdem stehen ihr, so trostlos die Szenerie auch ist, nicht viele Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, wenn sie nicht wie ein Hamster im Käfig durch die Straßen rund um ihren Block laufen oder den äußeren Umfahrungsring nehmen will, auf dem unablässig ein brutaler Verkehr tobt. Der Regen heute Morgen hat wenigstens den Effekt, dass die Landschaft großenteils verschwimmt, auch wenn es nicht direkt angenehm ist, in Pfützen zu treten und zu fühlen, wie das schmutzige Wasser über den Rand der Joggingschuhe schwappt und die Frotteesocken durchnässt. Doch ihr Bewegungsdrang ist groß, nie würde sie auf das Laufen verzichten, niemals: Sonst müsste sie jetzt in ihrem Zimmerchen sitzen und warten, bis Stefano sie abholt, um zum Mittagessen zu seinen Freunden Tommaso und Lauretta zu fahren, in die Hügel des Oltrepo Pavese.
Als Kind war Laufen ihre liebste Fortbewegungsart, auf dem Weg zur Schule oder nach Hause, um Onkel und Tante oder eine Freundin zu besuchen, um einzukaufen, wenn ihre Mutter fand, dass sie an der Reihe war, um die Gegend zu erkunden, sobald sie keine dringenden Pflichten hatte. Laufen erlaubte ihr, die Abstände zu verkürzen und ihre Unruhe loszuwerden, sich aus starren Situationen und einengenden Beziehungen zu befreien, Wiederholung und Langeweile von sich fernzuhalten. Es hat sie nie Mühe gekostet, wahrscheinlich dank der Übereinstimmung gewisser körperlicher und geistiger Eigenschaften. »Wer lange Beine hat, denkt weiter«, sagte Onkel Harold. Ihre Schwester Paula gab ihr irgendwann den Spitznamen Clarie-Pony, weil sie überallhin rannte, und nach einer Weile wurde sie zu Hause von allen so genannt. Auch heute taucht dieser Name immer mal wieder auf, in einer E-Mail oder bei einem der seltenen Treffen derer, die noch übrig sind von der weitverstreuten Familie Moletto. Ihr missfällt das nicht, ihr scheint, dass er recht gut ihr unruhiges und träumerisches Wesen ausdrückt. So hat sie nun drei Namen: ihren Taufnamen, den Kosenamen der Schwester und den Namen, den Stefano ihr vom ersten Tag an gegeben hat, seit sie zusammen sind. Besser als einen einzigen, in dem dann zwangsläufig alle ihre verschiedenen Seiten Platz finden müssten, einschließlich der Widersprüche.
Dass sie schon als Kind rannte und jetzt joggt, rührt vielleicht daher, dass sie nicht gerne wartet und aller Starrheit instinktiv entkommen möchte. Die schnelle Bewegung vermittelt das Gefühl eines gewissen Abstands von der Wirklichkeit. Es ist zwar nicht wie Fliegen, aber doch eine zeitweise Befreiung von der versklavenden Langsamkeit der Schritt für Schritt, Ecke für Ecke, Gedanke für Gedanke zurückgelegten Wege. Während sie durch diesen traurigen Stadtteil rennt, empfindet sie die gleiche Erleichterung wie damals, als sie mit sechs oder sieben Jahren über den kleinen Rasen vor dem Haus auf die Straße trat und allmählich beschleunigte, bis der bedrückende Teil ihres Lebens weit weg war und sie nicht mehr einholen konnte.
Nicht dass Joggen eine Methode wäre, um sich dauerhaft von allen beschwerlichen Gedanken zu befreien: Einige klammern sich auf dem ersten Stück noch an sie, und sie muss sie mit einem energischen Ruck abschütteln, andere lauern ihr auf, wenn ihre Runde endet und sie wieder normal geht. Wieder andere folgen ihr unbemerkt und blitzen plötzlich zwischen ihren raschen Bewegungen und ihren Atemzügen auf: zum Beispiel das heutige Mittagessen bei Tommaso und Lauretta, so absolut vorhersehbar, Gesichtsausdrücke und Gesprächsthemen eingeschlossen. Oder Stefanos Hang, über ihr Joggen zu lästern, die Absurdität der Energieverschwendung zu betonen, die Wahrscheinlichkeit von Schäden an Gelenken und Bändern, früher oder später. Er ist kein unsportlicher Mensch, er hat eine gute Kondition, wenn er sie zum Beispiel auf eine Bergtour oder einen Fahrradausflug mitschleppt und sie Kilometer um Kilometer zurücklegen, auf Routen, die er vorher eingehend auf der Karte studiert und festgelegt hat. Vielleicht sieht er Rennen als eine Form von Flucht, und die unbestimmte Getriebenheit, die sich dahinter verbirgt, sowie die potentiell unkontrollierbare Leichtigkeit beunruhigen ihn. Sein Sarkasmus ist vielleicht eine Schutzhaltung gegen eine Seite ihres Wesens, die er nicht ganz begreift und die ihm Angst macht. Hierzu
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