Sie und Er
Einfluss auf das Geschehen zu haben, so dass er plötzlich alles mit einem gewissen Abstand sieht. Der Jaguar bewegt sich wie von selbst, unaufhaltsam, wenn auch mit abnehmender Geschwindigkeit, schlittert er auf eine Autoschlange mit roten Rücklichtern zu, die an einer roten Ampel wartet. Es wird grün, die Autos setzen sich gerade rechtzeitig wieder in Bewegung, nur das letzte, ein dunkler Kombi, bleibt mit unerklärlicher Hartnäckigkeit stehen. Er versucht erneut zu bremsen und spannt die Muskeln an, überlässt sich zugleich aber mindestens teilweise einem bittersüßen Gefühl der Unvermeidlichkeit, während er sich dem Audi so weit nähert, dass er auf dem grauen Kunststoff der Kofferraumabdeckung ein Buch mit blauem Einband erkennen kann.
Halb in Trance, wie es zu einem verregneten Sonntagnachmittag passt
Halb in Trance, wie es zu einem verregneten Sonntagnachmittag passt, hängt sie ihren räumlich gedehnten Empfindungen und Gedanken nach, ohne Höhen und Tiefen, die man genau benennen könnte. Es gießt in Strömen, Milliarden von dicken Tropfen trommeln pausenlos aufs Autodach und auf die Windschutzscheibe, fließen in Bächen die Fensterscheiben herab. Stefano zu ihrer Linken hält sachverständig das Steuer, während er Betrachtungen über den halben Tag anstellt, den sie im Wochenendhaus seiner besten Freunde in Oltrepo Pavese verbracht haben. Die Weiterentwicklung oder vielleicht Rückentwicklung von Toms Charakter in den letzten Jahren im Vergleich zu dem von Lauretta, ihrer beider Nachgiebigkeit gegenüber der ungebremsten Aufdringlichkeit der zwei Kinder, ihre fragwürdigen Investitionen wie zum Beispiel in den Swimmingpool, den sie bestimmt nicht mehr als ein paar Monate im Jahr nutzen können. Seine Art, die Dinge zu analysieren, ist fast ebenso beruhigend wie entnervend, genau wie sein Profil mit der geraden Nase, sein Muttermal an der rechten Schläfe, seine hellblauen Augen hinter der Brille mit der schmalen Schildpattfassung, sein leicht herablassender Drang, andere zu belehren. Die Gründe, warum es ihnen miteinander gut- oder schlechtgeht, sind alle nahezu greifbar; der Regen löscht die Landschaft rundum aus, so dass es scheint, als seien sie in einem Laborkäfig isoliert, wodurch jede winzige Zuckung, jede Verschiebung des Blicks, jede kleine Veränderung in der Stimmlage eine messbare Bedeutung erhält. Die Wörter hinter den Wörtern, das Echo und der Nachhall, was man sich erträumt und was man braucht, was man sucht und was man findet. Sie betrachtet die Überschwemmung vor dem Fenster, und ihr ist, als sehe sie in sich hinein, zwischen Schläfrigkeit und milchiger Langeweile, Wiederholung bekannter Elemente, Vorwegnahme plötzlicher Erschütterungen.
Dann fährt Stefano an der Kreuzung zu der großen grauen Straße, die ins Zentrum führt, gerade wieder an, und skatapam, schüttelt ein heftiger Stoß das Auto, es macht einen Satz nach vorn, sie werden gegen das Armaturenbrett geschleudert und prallen zurück an die Rückenlehnen und Kopfstützen.
»Scheissssee!«, brüllt Stefano; mit mehreren Sekunden Verspätung streckt er schützend den Arm vor ihr aus.
Sofort sehen sie sich an und dann um: erschrocken, benommen, unsicher.
»Hast du dir weh getan?«, keucht Stefano.
»Ich weiß nicht, ich glaube nicht«, erwidert sie. »Und du?« Ihr Herz rast, sie schnappt nach Luft. Sie tastet verschiedene Teile ihres Körpers ab, um festzustellen, ob sie verletzt ist, findet aber anscheinend nichts. Hinter ihnen wird gebremst und gehupt, Autos und Lastwagen überholen und fahren vorbei.
»Herrgott noch mal!«, schreit Stefano. Er hebt die Hände und schlägt auf das Lenkrad, rückt sich die Brille auf der Nase zurecht, versucht, die Kontrolle wiederzuerlangen, die er so plötzlich verloren hat.
»Was ist passiert?« Sie dreht sich um, kann aber durch den Wasserfall, der die Heckscheibe herunterläuft, nichts erkennen.
»Dieser Verbrecher war das!« Stefano deutet auf ein grünes Gebilde hinter ihnen. Er öffnet die Autotür, merkt aber in der Aufregung nicht, dass er noch angeschnallt ist; wütend löst er den Gurt, bleibt mit der Schulter darin hängen, windet sich wie wild, um sich zu befreien, steigt aus.
»Pass auf!«, sagt sie. Sie bewegt den Kopf von einer Seite zur anderen, um die Halswirbel zu prüfen: Sie scheinen in Ordnung zu sein. Sie öffnet die Tür und steigt ebenfalls im strömenden Regen aus.
Draußen begutachtet Stefano gerade die eingedellte Heckklappe des
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