Sie und Er
Limousinen und Coupes und Geländewagen angerast, die ihn mit dem bläulich weißen Licht ihrer Xenonscheinwerfer anblinken und bis auf wenige Zentimeter auffahren, um ihn, Stoßdämpfer an Stoßdämpfer, zum Ausweichen zu zwingen, bis er plötzlich auf die Bremse tritt und sie zwingt, ebenfalls zu bremsen und sich in die erste Lücke rechts einzufädeln und dort im wütenden Zickzack zwischen den Spuren wieder zu beschleunigen. Entweder haben sie Navigationsgeräte, die ihnen die Standorte der elektronischen Geschwindigkeitskontrollen anzeigen, oder die richtigen Kontakte, um sich die Bußgelder tilgen zu lassen, oder es ist ihnen einfach egal, und sie zählen auf die Langsamkeit der Bürokratie in der italienischen Verwaltung und ihre periodischen Amnestien. Jedenfalls fahren sie durchgehend 180 bis 200 Stundenkilometer, wenn ihnen nicht gerade ein alter Jaguar im Weg ist. Auch hier schwankt er zwischen zwei gegensätzlichen Positionen, wie bei fast allem. Er weiß genau, dass er tollkühner fahren könnte als sie alle zusammen, wenn er wollte. Es ist kein abstraktes Wissen: Er hat es im Hirn und in den Beinen, in den Füßen, in den Händen, in dem Adrenalin, das beim bloßen Gedanken in seinem Blutkreislauf zirkuliert. Es ist alles da, am Grund seiner schlimmsten Gedanken, bereit, ans Licht zu kommen. Doch kriminelles Fahren gehört zu den Verhaltensweisen, die er hasst an diesem ungezogenen, gleichgültigen, vulgären, feigen Land voller Gesetze und ohne Regeln. Die Vorstellung, dass es potentiell auch Teil seines eigenen Wesens ist, erfüllt ihn mit dumpfem Groll und treibt ihn dazu, mit 140 Stundenkilometern die Überholspur zu blockieren.
Irgendwann schaltet er den cd-Player ab, weil er nichts hören kann, zieht den MP3-Player aus dem Handschuhfach, versucht, die Kabel zu entwirren, ohne die Kontrolle über das Lenkrad zu verlieren, nimmt die Ohrhörer und schiebt sie so tief ins Ohr, wie es geht. Er lässt mit dem Menü die Playlists durchlaufen bis zur Abteilung »Sprachen«, klickt wahllos auf eine aus einer sehr langen Liste von Deutschlektionen. Der Lehrer ist ein polnischer Jude mit französischem Namen, nach Frankreich ausgewandert, um der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen; später ging er in den Widerstand, wurde drei- oder viermal von den Deutschen verhaftet, entwischte aber jedes Mal, indem er vorgab, er sei ein anderer, bis er am Ende des Krieges nach Los Angeles auswanderte, um eine Sprachenschule zu eröffnen. Dass er diese Geschichte kennt, verleiht dieser Stimme eines gutmütigen alten Onkels mit oft hörbar klapperndem Gebiss einen anderen Klang; zudem ist der Typ vor ein paar Jahren gestorben, so dass bei seinen Sätzen immer auch ein leises Verlustgefühl mitschwingt.
Jedenfalls hat es etwas Hypnotisierendes, hier im ständigen Krach und Vibrieren dieses scheinbar endlose Asphaltband entlangzurasen, es erlaubt ihm, alles viel besser aufzunehmen, als wenn er es in einem Zimmer sitzend lernte. Nach vier oder fünf Lektionen, die er sich auf diversen Autofahrten angehört hat, kann er schon einige einfache Sätze bilden, wenn er auch aufgrund des Lärms keine Ahnung hat, wie seine Aussprache ist. Er hatte schon immer ein Gespür für Sprachen und Akzente, wahrscheinlich weil er sich nirgendwo recht verwurzelt fühlt und ein aus einem festen Zusammenhang herausgelöstes Individuum dazu neigt, Techniken zu entwickeln, die ihm gestatten, unter unterschiedlichen Bedingungen zu überleben. Aber natürlich geht es auch darum, immer wieder eine neue Herausforderung zu suchen, um sich zu beweisen, dass man geistig noch nicht am Ende ist. Es kommt manchmal vor, dass ein Leser oder eine Leserin von vielleicht fünfundzwanzig Jahren ihn um ein Autogramm in einem Buch bittet und ihm dann erzählt, im Unterschied zu ihm leider nie aus dem Land herausgekommen zu sein und keine Fremdsprache zu sprechen. »Und was zum Teufel hindert dich daran?«, antwortet er dann jeweils und würde sie am liebsten an den Schultern packen und heftig schütteln. Ihm scheint, dass es mit Italien auch deshalb bergab geht, weil gewisse Beschränkungen einfach hingenommen werden, als ob es natürliche Barrieren wären, die unüberwindlich sind.
Er versucht, sich auf einige Verbformen zu konzentrieren, aber jedes neue Blinken und Drängen von Autos hinter ihm vergiftet sein Blut noch etwas mehr. Er würde gern einen Zustand größerer Gelassenheit erreichen und sich nicht mehr darum scheren, aber es gelingt ihm einfach
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