Sie und Er
fallen ihr noch mehr bezeichnende Episoden ein, zum Beispiel der Besuch ihrer Schwester Julia, als sie noch bei Stefano wohnte. Gemeinsam hatten die Moletto-Schwestern ein schönes Abendessen vorbereitet und nach ein paar Gläsern Wein in der Küche angefangen zu tanzen und lauthals Wild Thing zu singen, und plötzlich war Stefano aus dem Wohnzimmer erschienen, um sie zurechtzuweisen mit der Behauptung, sie störten die Nachbarn. Natürlich war er es, der sich gestört fühlte, weil sein Gleichgewicht an erworbenen Gewissheiten und bewährten Verhaltensweisen ins Wanken geraten konnte durch einen unvorhergesehenen Rock-Abend. Manchmal nervt es sie, dass er so engstirnig ist und so übertrieben reagiert, manchmal findet sie es beruhigend, manchmal auch rührend, weil es eine uneingestandene Zerbrechlichkeit enthüllt. Jedenfalls sagt sie es ihm nicht mehr, wenn sie joggen geht, höchstens ganz allgemein: »Ich drehe eine Runde«, was dem Joggen letztlich noch einen feinen, kindlichen Hauch von etwas Verbotenem verleiht.
Doch jetzt liegt die schier endlose Mauer schon eine ganze Weile hinter ihr wie auch die außergewöhnlich öden Häuserblöcke gleich danach samt dem leicht erhöhten Zementsee, der als Parkplatz dient. Sie läuft um den Kreisverkehr in der Mitte eines formlosen Platzes und dann zurück, an der Backsteinmauer entlang, die das Freibad umschließt. Der zweite Teil der Runde ist nie so befreiend wie der erste; jetzt noch viel weniger, da der Regen noch zugenommen hat und ihr auf den Kopf prasselt, auf die Stirn und auf die Augenlider, auf die Nase, auf die Lippen.
Die Autobahn verpestet seine Gedanken nur noch mehr
Die Autobahn verpestet seine Gedanken nur noch mehr. Das ständige Beschleunigen und Bremsen und Spurwechseln, die rasche Verlagerung der Aufmerksamkeit nach vorn und seitlich und nach hinten im Rückspiegel, die Vorwegnahme idiotischen oder offen kriminellen Verhaltens seitens der anderen Autofahrer - alles zerrt an seinen Nerven. Das Verdeck seines grünen, vierzehn Jahre alten Jaguars xjs Cabrio knattert im Gegenwind, als würde es gleich aufgehen, abreißen und ihn ungeschützt dem anhaltenden Regen aussetzen. Es ist ein Jaguar aus der schlechtesten Periode, mit einer kantigen Linienführung, die nichts zu tun hat mit den schönen fließenden Formen der sechziger Jahre und auch nichts mit dem rationaleren und lineareren Design der jüngeren Modelle. Wahrscheinlich hat er ihn deshalb gekauft: weil er ihm irgendwie verkehrt vorkam. Jetzt fährt er allerdings zu schnell für das nicht sonderlich stabile Chassis, das Gaspedal zu drei Viertel durchgedrückt, die Tachonadel zittert unentschieden zwischen 140 und 150, die Reifen verlieren gelegentlich die Bodenhaftung wegen der riesigen Pfützen und des schlechten Zustands der Aufhängung. Ab und zu nimmt er einen Schluck Wodka aus der Flasche auf dem Beifahrersitz: Er schraubt den Verschluss mit einer Hand auf und wieder zu und wirft sie zurück auf ihren Platz. Ständig drückt er auf die Repeat-Taste des cd-Players, um noch einmal I Cover The Waterfront von John Lee Hooker in einer Studioaufnahme zusammen mit Van Morrison abzuspielen, aber auch auf höchster Lautstärke kommt die Musik kaum an gegen das Trommeln des Regens und das Schlagen des Verdecks und das Dröhnen des Motors und das Rollen der Reifen und das vielfältige Zischen und Sausen der Zugluft, die durch alle Ritzen des alten Jaguars dringt. Dasselbe Stück hundertmal hintereinander anzuhören, bis es zum Ohrwurm wird und er jede einzelne Passage auswendig kann, ist eine Manie von ihm. Nur so gelingt es ihm, der harmonischen Struktur auf den Grund zu gehen und zu dem durchzudringen, was hinter den Tönen steht: das Studio und die Blicke zwischen den Musikern, ihre Bewegungen und ihre Ticks, die Kombination von Fähigkeiten und Grenzen, die den besonderen Stil eines jeden hervorbringt, die plötzlichen Intuitionen, die einer Phrase ihren Sinn geben, die Höhenflüge, die Wiederholungen, die Rückkehr zum Thema, so als käme man nach Hause, beruhigend und leicht von Wehmut durchzogen beim Gedanken an das, was noch hätte geschehen können, wenn man noch länger fortgeblieben wäre.
Letztendlich heitert ihn Musik nie sonderlich auf; im Gegenteil, fast immer vertieft sie seine Traurigkeit oder erhöht seine Anspannung, so wie jetzt auf dieser Autobahn voller Pkws und Lastwagen im strömenden Regen. Obwohl er schneller fährt als erlaubt, kommen hinter ihm ständig
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