Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
Fahrrad in die Straßenbahn-schienen geraten war und mit ansatzlosem Salto vor einem Linienbus landete. Der auf mich zurollende, riesige Reifen würde meinen Kopf zerquetschen, wenn er nicht augenblicklich stoppte, ergab die Millisekun-den dauernde Überprüfung meiner Lage, und ohne Kopf wollte ich nicht weiterleben
– wie sieht denn das aus. Ich zog mich ganz in mich zusammen und hoffte inständig, mein Tod könne mich vor diesem Unglück bewahren.
Für eine kurze Zeit hat er mich wohl in seine Arme genommen, denn ich spürte den Schmerz kaum, den der Reifen verursachte, als er mir über die Haare rollte und mir dabei einige Büschel herausrupfte. Er hat mir auch die Augen und die Ohren zugehalten, denn ich bekam wenig mit von dem Entsetzen und den Aktivitäten, mit denen die an-wesenden Mitmenschen beschäftigt waren.
Den Director’s Cut dieses Geschehens zeigte er mir erst viel später, und in fürsorglicher Art nur häppchenweise. Er entließ mich damals erst aus seiner schützenden Umar-mung, als mein Fahrrad erneut zusammen-gebaut war, die Schulbücher wieder ihre Tasche füllten und ich auf den Treppen eines Briefmarkenladens, wo man mich hin-41
gesetzt hatte, in das weinende Gesicht meiner Freundin schaute, die immer wieder
›Moni, sag doch was!‹ schluchzte. Es ging nicht. Ich bekam kein Wort heraus, so sehr ich mich auch anstrengte. Humpelnd, mit steifem Knie das Fahrrad schiebend, setzte ich mit meiner Freundin den Weg zur Schule fort. Ich hatte zwar die Sprache verloren, aber mein Kopf war noch dran. Dafür war ich meinem Tod, der mir wie ein Retter in allerhöchster Not erschienen war, dankbar.
Wen wundert es, dass meine Sprache für dieses absurde Empfinden keine Worte fand und ihre Mitarbeit vorübergehend einstellte.
Später begegnete ich öfter dem Tod, aber dem von anderen. Von meinem eigenen
hörte ich Jahre, ach jahrzehntelang nichts und hatte ihn schon fast vergessen, da stand er plötzlich auf der Matte. Nicht, dass ich mich in einer lebensgefährlichen Situation befunden hätte, im Gegenteil, er tauchte auf in einem Moment schwerster Verliebtheit in das Leben, um auch mir den gewaltigen Schreck einzujagen, für den er ja berühmt ist. ›Es wird alles vorbei sein! Alles!‹, flü-
sterte er mir ein. ›Und nichts wird von dir und deinem Leben übrigbleiben. Nichts!
Absolut nichts!‹
Das Blut in meinen Adern war auf der Stelle schockgefroren, Gehirn- und Empfindungs-tätigkeit abgestellt und ich verharrte absolut regungslos in einem Zustand der Betäubung, wie nach einem klassischen K.O. Seine Botschaft hatte mich mit Lichtgeschwindigkeit in eine endlose, einsame Leere katapultiert und es dauerte Jahre gefühlter Zeit, bis ich 42
das leise Stimmchen meines Lebenstriebs vernahm: ›Hallo, es ist noch nicht so weit.
Jetzt noch nicht!‹ Ich kam wieder zu mir und fühlte einen süßen Schmerz, als mein Blut und mein Hirn sich langsam wieder in Bewegung setzten, um Fahrt für eine rasante Panikattacke aufzunehmen. ›Aber es kann jeden Moment vorbei sein‹, klugscheißerte mein Ego ängstlich, ›heute noch, morgen, nächste Woche.‹ Ein Leben ohne mich!?
Mir wurde schlecht. Es hatte keinen Sinn, über meine statistische Lebenserwartung nachzudenken. Es stimmte, es kann sehr schnell gehen, schneller als einem lieb ist.
Mir wurde noch schlechter. Getrieben von der Vorstellung, ich müsste wirklich gleich den Löffel abgeben, überlegte ich, was zu tun übrigbliebe. ›Oh Gott, ich muss noch den Keller aufräumen,‹ schreckte ich hoch, und ich schämte mich fast dafür, dass ich meinen Hinterbliebenen beinahe einen bis unter die Decke mit Gerümpel vollgestellten Keller zurückgelassen hätte.
Es brauchte einige Tage, bis dieses Trauma halbwegs aus den Knochen geschüttelt war.
Warum hatte er sich ausgerechnet einen meiner glücklichsten Momente ausgesucht, um seine atemraubende Macht zu demon-strieren? Vielleicht kann er gar nicht anders, nahm ich ihn nun in Schutz. Vielleicht ist es seine Natur, sich ausschließlich mit exzel-lenter, leidenschaftlicher Dramaturgie un-vergesslich in Szene zu setzen. Sein erneuter Auftritt bei mir war jedenfalls wieder ein voller Erfolg. Der Blick auf die eigene Vergänglichkeit schärft die Wahrnehmung und 43
macht aus meinem Lebenssaft einen zauber-trankähnlichen Hochprozentigen, der ungeahnte Kräfte weckt. Mein Tod als Kraft-spender. Na toll, ist man geneigt zu denken; allerdings hat die Sache auch einen Haken.
Diese Kräfte möchten
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