Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
erfahrungswissenschaftli-chen Parameter.
Die Wohlfühl-Umgebung des Angebers ist die Gesellschaft von Nichtangebern, im Ide-alfall der Kreis seiner Fans. Wären sie ständig unter ihresgleichen, bestünde die Gefahr einer sofortigen Genesung. Parkten beispielsweise samstags morgens in seiner Wohngegend nur rosa Cadillacs, müsste er seinen Status neu überdenken oder sein Au-to umspritzen. Weil Angeber sich gegenseitig abstoßen wie zwei negativ geladene Teilchen, besteht – Gott sei Dank – nicht die Gefahr einer Verschwörung oder gar Epi-demie.
In der virtuellen Welt des Internets finden Angeber ungeahnte neue Möglichkeiten.
Chat-Rooms sind ein wahres Eldorado für Komplimente-Digger. Hier kann jeder seinen Claim grenzenlos abstecken, ohne dass es zu Schießereien kommt. Bis es zu einer Bildübertragung oder einem realen Treffen kommt, kann man hier in die Tasten bezie-hungsweise auf die Kacke hauen, bis der 50
Arzt kommt – ohne Scham wegen der Som-mersprossen und ohne die Gefahr, dass ein Gegenüber das benutzte Deo Marke Eigen-lob riechen könnte.
Im wirklichen Leben geht es meist unspek-takulärer zu. Der normale Mensch denkt sich beim Anblick eines zu 100% ausge-wachsenen Angeber-Exemplares, na das ist ja ne dolle Nummer, den oder die muss ich unbedingt mal meinen Kollegen zeigen.
Man verfährt mit Angebern so wie Compu-terfachleute mit den neuesten Viren: Sie werden untereinander ausgetauscht, damit sich jeder von ihrer Programmierqualität und Arbeitsweise ein Bild machen kann, bevor man sie endgültig von der Platte putzt und zum Tagesgeschäft zurückkehrt.
ER Angeben
Das Angeben, auch prahlen oder sich dicke tun genannt, dürfte so alt sein wie die Menschheit. Genauer gesagt, wie der männliche Teil der Menschheit, der durch die Demonstration körperlicher Vorzüge oder Fähigkeiten einen möglichst hohen Platz in der Hackordnung für sich reklamieren wollte. Bei pubertierenden Männchen war zumindest bis zu meiner Jugend der Schwanz-vergleich très chic, heutzutage ist es möglicherweise umgekehrt, d. h. Obermotz ist der mit dem kleinsten Handy. Ich habe bei diesen Vergleichen übrigens nie mitgemacht.
Erstens war mir die Wahrung meiner Intim-sphäre immer schon wichtig, und zweitens lagen meine besonderen Stärken immer
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schon auf geistigem Gebiet. »Wissen ist Macht« war lange Zeit die Einleitung meiner – ich darf wohl sagen – gefürchteten, in-dividuell zugeschnittenen Poesiealbums-widmungen, wobei ich bemüht war, meine aktuelle Interessenlage mit den meist doch arg limitierten kognitiven Kapazitäten auf Empfängerseite auszubalancieren. Ein Beispiel: Mit sieben Jahren wollte ich Förster werden, wusste praktisch alles über Tiere und war unsterblich verknallt in die gleichaltrige Elisabeth. Ihr schrieb ich ins Buch: Liebe Elisabeth, Wissen ist Macht. Wusstest du, dass der in Kolumbien vorkommende Goldene Pfeilgiftfrosch (Phyllobates terri-lis) das wirksamste aller Tiergifte produziert? Wenige millionstel Gramm sind für einen Menschen absolut tödlich. Zufällig besitze ich ein Fläschchen und würde es auch gegen jeden verwenden, der dir dumm kommt. Dein Jürgen.
In Peters Poesiealbum findet sich, sofern es noch existiert, ein weiterer Eintrag aus meiner Försterphase. Peter war in Gisela ver-schossen.
Lieber Peter. Wissen ist Macht. Wusstest du, dass der Feuerkäfer (Neopyrochroa flabel-lata) als Sexuallockstoff Kantharidin benutzt? Das Interessante ist, den bildet und scheidet nicht er selber aus, sondern der Blasenkäfer. Gisela findet Kantharidin auch toll. Zufällig besitze ich ein Fläschchen und könnte dich gegen Zahlung von jeweils zwei Mark damit betupfen. Dein Jürgen.
Laut meinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 62 tätigte ich meine letzte Eintra-52
gung in ein fremdes Poesiealbum am 26.
April jenes Jahres, anlässlich des 13. Geburtstags von Petra. Mein Berufswunsch in dieser Phase: Priester.
Liebe Petra. Wissen ist Macht. Wusstest du, dass Onan, der Sohn des Juda, der sich dessen Befehl, mit Tamar, der Frau seines ver-storbenen Bruders, Kinder zu zeugen, wi-dersetzte, indem er zwar mit seiner Schwä-
gerin schlief, seinen Samen aber zur Erde fallen und verderben ließ, wofür Gott ihn sterben ließ, somit gar nicht die Onanie erfunden hat, sondern den Interruptus? Dein Jürgen.
Dummerweise geriet das Poesiealbum in die Hände von Petras Klassenlehrerin, einer Nonne, die es an meinen Direktor weiterlei-tete, der wiederum meine Eltern und meinen
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