Sie und Er
andere bleiben noch, reden und lachen noch zusammen. Besonders Gio war schon immer ein wenig hinter ihr her mit seinem empfindsamen, traurigen Ausdruck, den er laut Stefano, der ihn einmal gesehen hat, absichtlich kultiviert, was durchaus sein kann. Aber er spielt gut Gitarre und kennt viele Lieder auswendig, und er hat so eine Art, sie anzusehen, während er spielt, sie zum Singen zu bringen, sich zu freuen über ihren Akzent und ihr Repertoire an Beatles- und Rolling-Stones-Songs, die sie alle auswendig kann. Tatsächlich spielt sie gern die Entertainerin, wenn sie ein Publikum hat, das sie gut kennt: Es gefällt ihr, die Leute zu animieren. Vielleicht liegt es unter anderem daran, dass sie zwischen den militärischen Drillübungen ihres Vaters und der ständigen Zerstreutheit ihrer Mutter und später der Scheidung und den finanziellen Schwierigkeiten und der Verantwortung für die zwei jüngeren Schwestern nie eine echte Kindheit hatte; heute ergreift sie jede sich bietende Gelegenheit, um ihre kindliche Seite auszuleben. Stefano schien anfangs überrascht zu sein und bewunderte ihre Begabung als Tänzerin und Improvisationskünstlerin: Er sah ihr zu und lachte, erstaunt über ihre Bereitschaft, sich so rückhaltlos einzubringen und zu exponieren. Ähnlich wie Luigi vor ihm behandelte er sie wie ein exotisches Tier, das auf geheimnisvolle Weise in sein Leben als junger Mailänder Anwalt, Sohn einer kalten Mutter und Exfreund einer Reihe kalter Frauen getreten war. »Woher hast du bloß dieses Gefühl für Rhythmus?«, sagte er zu ihr. »Erklärst du mir mal, wie du diese Bewegungen gelernt hast?« Sein Staunen amüsierte sie, und sie erklärte ihm, dass sie das schon immer konnte, dass auch ihre Schwestern gute Tänzerinnen sind, dass vielleicht Onkel Harold mit seiner Musik einen Einfluss gehabt hat, dass es den Molettos aber wahrscheinlich einfach im Blut liegt. Er schüttelte den Kopf, hin- und hergerissen zwischen dem Stolz des erfolgreichen Jägers und aufkommendem Unbehagen. Im Laufe der Jahre hat das Unbehagen überhandgenommen, und jetzt zeigt er sich jedes Mal irritiert, wenn sie Anstalten macht, ihre Lebhaftigkeit vor Publikum unter Beweis zu stellen.
Wie auch immer, nun gehen wirklich alle, einer nach dem anderen: Sie drehen sich um und winken von weitem, bevor sie ins Auto steigen. Daniel Deserti hat den Roller schon vom Ständer geschoben und den Motor angelassen, sie setzt sich hinter ihn auf den Rücksitz. Soll sie ihn jetzt fragen, wo er zu übernachten gedenkt? Ihr fällt kein passender Satz ein; eigentlich hat sie auch keine Lust dazu, darüber nachzudenken. Sie fahren die Straße über der Küste hinauf wie zwei Schlafwandler, wahrscheinlich beide gleich erstaunt, dass sie es bei jeder Kurve schaffen, ihr zu folgen, und nicht den Steilhang rechts von ihnen hinunterstürzen. Sie hält sich am Fahrgestell des Rollers fest, betrachtet die Lichterkette an der Küste, weiße und gelbe und bernsteinfarbene Punkte, so weit das Auge reicht. Die Temperatur schwankt je nach Lage des Horizonts, Blütenduft weht vorbei, süß, harzig, stechend, Hunde bellen an den Toren, Autos schlafen am Straßenrand neben dunklen Bäumen und schemenhaften Balkonen. Langsam fahren sie durch die Nacht, erst lange bergauf, dann wieder bergab folgen sie auf wundersame Weise der Straße, auch wenn sie sich verengt und in die dichte, dunkle Vegetation eintaucht, um dann im Licht einer einsamen Laterne wieder herauszukommen. Endlich erklimmen sie den letzten steilen Hang und kommen vor dem Tor zu dem kleinen Garten mit den Olivenbäumen zum Stehen. Er schaltet den Motor ab, unterbricht das Brummen und die Vibration. »Da sind wir!«, sagt er und kann es offenbar kaum glauben.
Sie steigt ab, öffnet mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen das Tor, bleibt stehen. Als er den Roller an der Agave mit den langen Stacheln vorbei um den Olivenbaum geschoben hat, macht sie ebenso langsam wieder zu. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie erneut zu zweit hier sind; sie fragt sich, ob sie das Tor wieder öffnen, darauf zeigen, sich verabschieden und ihn hinausschieben sollte.
Die Luft in dem kleinen Garten duftet feucht und süß. Alle beide bewegen sich träge, die Müdigkeit eint sie, sie sind klebrig vom Salz des Meeres, spüren die kleinen Steinchen vom hinteren Teil des Strands zwischen den Zehen. Das Zirpen der Grillen erfüllt mit einer feinen, regelmäßigen Frequenz den akustischen Raum, der den ganzen Tag über rücksichtslos
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