Sie und Er
anders als jene eifrige, wohlerzogene junge Frau, die am Südwestlichen Stadtrand von Mailand aus dem angefahrenen Auto ihres Verlobten ausgestiegen war. Und während Deserti sie so beobachtet, wächst das rätselhafte Verlustgefühl, das er empfindet: Am liebsten würde er sich die Hosentaschen mit Steinen füllen, ins Meer springen, sich ertränken. Lächerlich, wie er sich vorher exponiert hat, als er sie mit vermutlich unzutreffenden Beobachtungen und rückhaltlosen Komplimenten überschüttet hat.
Sie ist jetzt zu dem Gitarrenspieler zurückgekehrt, sie machen ein Spiel. Er klimpert ein paar Akkorde und fragt nach dem Titel des Songs. »Es liegt mir auf der Zunge!« Sie streckt die Zungenspitze heraus, berührt sie mit dem Zeigefinger, hält bei jedem Titel, der ihr einfällt, den Finger in die Luft. Die Umstehenden lachen, klatschen, feuern sie an weiterzumachen mit der kleinen improvisierten Performance. Hastig wechselt der Typ mit der Gitarre die Akkorde, reißt die Saiten mit dem Plektron an, um das musikalische Quiz fortzusetzen. Deserti fragt sich, wieso er nicht gleich erkannt hat, was für ein Typ sie ist, als sie in den kaputten Jaguar hineinschaute, anstatt sich so blenden zu lassen. Er fragt sich, ob seine Menschenkenntnis schlechter geworden ist, ob die vielen Erfahrungen und die geistige Trägheit ihn zu automatischen Einordnungen verleiten und ihn daran hindern, das Wesentliche zu erfassen und rechtzeitig zu reagieren.
Die Moletto nähert und entfernt sich, tanzt und spricht mit anderen Leuten, ständig in Bewegung auf dem schrägen steinigen Strand. Sie verschwindet im tieferen Dunkel außerhalb des Feuerscheins, dann taucht sie wieder auf, kommt auf ihn zu, aber mit einem langen, dünnen Kerl im Schlepptau. »Paolo führt die Buch- und Schreibwarenhandlung hier im Dorf, er kennt dich bestens!« Es scheint sie zu beglücken, diese Begegnung zu vermitteln, an diesem schönen Sommerabend unter Freunden. Vielleicht nutzt sie aber auch jeden Vorwand, um Hindernisse zwischen ihnen aufzubauen und Abstand herzustellen.
»Sehr erfreut!«, sagt Paolo, der Buchhändler. Mit einer sehnigen, feinknochigen Stelzvogelklaue drückt er Deserti die Hand.
»Ciao«, antwortet Deserti. Er hat keinen Millimeter geistigen Raum für ihn übrig; er möchte nur kapieren, was sie tut und warum.
Paolo mustert ihn aus nächster Nähe, dreht sich um und reicht der Moletto die Flasche Weißwein, die er in der Hand hält. Sie trinkt einen Schluck, gibt sie ihm zurück, lächelt.
Der Gitarrenspieler ruft: »Clare, kennst du das?«, und schlägt die Saiten an, um sie mit einem weiteren Song wieder in seine Nähe zu locken. Der Bongospieler begleitet ihn mit einem hämmernden Rhythmus.
»Ich komme!«, ruft sie, macht Deserti ein Zeichen, dass sie gehen muss, und läuft zu dem Gitarristen, der sofort lauter spielt und singt, wie eine fette Zikade, entschlossen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Sie singt mit ihm und dem Bongospieler, setzt sich mit untergeschlagenen Beinen neben die beiden, schlägt mit den Händen auf den Knien den Takt. Wirft ihm keinen Blick zu. Keinen Blick.
Paolo der Buchhändler ist sturzbetrunken, doch hindert ihn das keineswegs, Deserti eine Reihe äußerst kenntnisreicher ausführlicher Fragen zu seinen Romanen zu stellen. »Was ich dich fragen wollte, ist«, sagt er und: »Ich habe mich schon immer gefragt, ob«, »Erklär mir doch mal, wie.« Er erinnert sich an alle Erscheinungsdaten, an die Namen sämtlicher Protagonisten, stellt willkürliche Bezüge her, findet Übereinstimmungen und Widersprüche, formuliert Hypothesen, von denen er wissen möchte, ob sie stimmen.
Deserti antwortet auf die halbautomatische Weise, die er in unendlich vielen Gesprächen dieser Art perfektioniert hat, und verfolgt dabei die Moletto mit seinem Blick. Ab und zu reicht ihr jemand eine Flasche; sie lehnt nie ab, trinkt, lacht, singt, steht wieder auf und tanzt im Gedränge ihrer Freunde. Zwei- oder dreimal spürt Deserti den Impuls, hinzulaufen und wild mit ihr zu tanzen oder sie am Handgelenk zu packen und fortzuziehen aus dieser Menge von aufdringlichen Fremden, die viel mehr über sie wissen als er. Aber er rührt sich nicht, bleibt dem Buchhändler mit seinen endlosen Fragen und Beobachtungen ausgeliefert.
Nach einer Weile kommt noch eine kleine kurzhaarige, nicht unbedingt hässliche Blonde mit hohen Wangenknochen und sagt: »Daniel Deserti, ich kann es nicht fassen!«
Er lächelt, aber der kleine
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