Sie und Er
Lonegan an der Gitarre. Julia und ich tanzten Hula. Im Baströckchen.«
»Hula?«, wiederholt er. »Wo hattet ihr das denn gelernt?« Er sieht sie genau vor sich, die Kindfrau: biegsam, eifrig, freudig, ernst.
»Bei einer gewissen Daisy Dowson«, sagt sie. »Daisy hatte zwanzig Jahre in Oahu gelebt. Sie war dick, und die Arthrose hatte ihre Hände ruiniert. Aber beim Hulatanzen bewegte sie sie mit unglaublicher Anmut.«
»Dann hast du ja sogar eine Ausbildung als Performerin.« Er setzt sich auf den Rand eines Hockers. »Siehst du?«
»Ach, hör auf.« Sie winkt ab, aber sie lacht amüsiert.
»Machte dein Onkel auch noch andere Musik?« Ihm gehen zwei, drei sehr lebhafte Bilder durch den Kopf, wie Onkel Harold sein könnte, wenngleich sie zumindest teilweise aus Filmen stammen. Einen Augenblick lang fragt er sich, ob es überhaupt noch möglich ist, sich jemanden oder etwas vorzustellen, ohne von dem beeinflusst zu werden, was man schon so oft gesehen hat; ob es nicht immer schwieriger wird, je mehr Darstellungen man kennt.
»Ja«, sagt sie. »Country und Western, old style. Gelegentlich spielte er auch in anderen Lokalen. Einmal hat er eine Nummer vorbereitet. Mit uns fünf Schwestern. Ein Lied. Es heißt: How Much Is That Doggie in the Window? Es handelt von einer Frau, die sich ein Hündchen kaufen lassen will, das im Schaufenster sitzt, in einer Zoohandlung. Der Onkel spielte und sang. Meine Schwestern und ich gingen hin und her, Hände auf den Hüften, und schnitten lustige Grimassen. Die Leute lachten. Wir haben uns köstlich amüsiert.«
»Siehst du?«, sagt er erneut, mit dem heftigen Gefühl, dass er noch immer nicht alles erfasst, was es zu erfassen gäbe. »Siehst du?«
Sie vollführt eine kleine Drehung, die Hände auf den Hüften, die Ellbogen ausgestellt, und schneidet eine lustige Grimasse.
»Hey«, sagt er. »Du bist erstaunlich. Weißt du, dass du erstaunlich bist?«
Sie bewegt den Zeigefinger, runzelt die Brauen, bläht die Backen auf, bewegt die Lippen wie eine Vaudeville-Sängerin und -Tänzerin.
Er lacht, hält sich an der Küchenplatte fest, wankt vor und zurück; er sieht sie unverwandt an.
Sie füllt zwei Gläser mit Leitungswasser, reicht ihm eines. Kinn erhoben, Kopf zurückgelegt, trinkt sie in großen Schlucken, das T-Shirt entblößt ihren Bauch. Sie füllt das Glas erneut, kippt es hinunter: das naturverbundene Mädchen, das sich mit Wasser vom Alkohol, den es im Blut hat, kuriert.
Er trinkt ebenfalls, ohne den Blick von ihr zu wenden. Die Zeit vergeht, ungemessen; keiner von beiden möchte genau wissen, an welchem Punkt die Nacht ist. Die Schärfe ihrer Gedanken ist ebenso beeinträchtigt wie ihre Standfestigkeit; vielleicht stehen gegenseitige Angebote im Raum zwischen ihnen, doch sie tauchen auf und verschwinden wieder, und weder ihm noch ihr gelingt es, sie festzuhalten. Beide scheinen nah dran zu sein, einen Schritt zu machen, ein Wort zu sagen, aber sie schweigen, nähern sich nicht. Wieder denkt er, er sollte auf die Tür deuten, ihr zuwinken oder sie zum Abschied vielleicht auf die Wangen küssen, an die Küste hinuntergehen und sich ein Hotel suchen, falls noch eines offen hat, oder den Rest der Nacht am Bahnhof verbringen. Wieder kommt ihm diese Vorstellung unendlich irreal vor, schier unmöglich, sie in die Praxis umzusetzen.
Sie geht zum Sofa, nimmt die Kissen, wirft sie zur Seite, zieht an einem Stoff griff und klappt ein Bett auf.
Wortlos beobachtet er die Szene: als ob gerade ein Wunder geschehe.
Sie durchquert das Zimmer, verschwindet nach oben: swishh, swishh, ihre nackten Sohlen auf den glatten Schieferstufen. Sie kommt mit einem Stoß Leintücher zurück, richtet mit wenigen, wunderbar effizienten Handgriffen das Bett, noch bevor er ihr seine Hilfe anbieten kann: »Vielleicht sollten wir jetzt schlafen gehen.«
»Darf ich hier übernachten?«, fragt er langsam, überrascht und grenzenlos erleichtert.
»Ja«, sagt sie. »Gute Nacht, auch wenn nicht mehr viel davon übrig ist.«
»Nein.« Weder Gegenvorschläge noch stimmungsvolle Bilder, noch wohlklingende Worte wollen über seine Lippen kommen.
Sie lächelt, geht ohne Hast zur Treppe.
Er sieht sie an, aber auch jetzt gelingt es ihm nicht, irgendetwas zu sagen: Er fühlt sich wie verhext.
Als sie die Treppe erreicht, dreht sie sich um, als wollte sie ihm noch einmal zunicken, doch stattdessen kommt sie zurück. Einen Schritt von ihm entfernt, bleibt sie stehen: Ihr Blick wandert über seine Haare,
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