Sie und Er
von den Zikaden besetzt gewesen war.
»Kennst du das Gesetz von Dolbear?«, fragt sie zu ihrer eigenen Überraschung. Gleich darauf ist sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie überhaupt gesprochen hat, so rasch verliert sich der Klang ihrer Stimme in der Nacht. Sie fragt sich, ob sie Zeit schinden will und welche Klärungen oder Erleuchtungen sie dabei erwartet.
Doch er hat sie gehört, denn er schüttelt den Kopf: »Das Gesetz von wem?«
»Arnos Dolbear«, sagt sie. »Er war ein amerikanischer Physizist.«
»What are you talking about?« Er lacht. Irgendwie schwanken sie auf ähnliche Weise; die Höhe ihrer Blicke verändert sich je nachdem, wie sie sich bewegen, und nach der Neigung des Rasens. Die Situation wirkt gefährlich, dann wieder unschuldig.
»A physicist«, sagt sie, das Wort sträubt sich ihr auf der Zunge, es kommt ihr auch auf Englisch seltsam vor.
»Ein Physiker«, sagt er.
»Genau.« Sie lehnt sich an den runzeligen Stamm eines Olivenbaums, um mehr Halt zu haben. »Aus dem 19. Jahrhundert, glaube ich.«
»Und was hat der gemacht?« Im Mondlicht ist Desertis Gesichtsausdruck komisch, konfus, hat nicht mehr den leicht bedrohlichen Schatten wie bei seiner Ankunft am Nachmittag.
»Ach, verschiedene Entdeckungen.« Sie muss zwischen einem Satz und dem nächsten eine Pause machen, um Luft zu holen. »Aber berühmt ist er für sein Gesetz.«
»Und wie lautet es?«, fragt er.
»Er hat einen Artikel geschrieben«, sagt sie. »The Cricket as a Thermometer.« Ja, sie versucht Zeit zu gewinnen.
Er beobachtet sie und wirkt belustigt, neugierig, herzlich: ein unerwarteter Spielgefährte, nicht aggressiv, nicht urteilend.
»Ja«, sagt sie. »Er hatte eine Korrelation festgestellt, weißt du? Zwischen der Frequenz des Zirpens der Grillen und der Lufttemperatur.«
»Wirklich?«, sagt er. »Eine Kor-re-la-tion?« Wie sie scheint er fasziniert vom Klang des Wortes, und wie sie scheint er nicht genau zu wissen, was es bedeutet.
»Ja.« Sie nickt mit einer gewissen Feierlichkeit. Sie nimmt sich Zeit, weiß aber nicht, wofür.
»Und woher weißt du das?« Er lässt sich rückwärts in eines der Sesselchen fallen.
»Mein Vater hat es mir erklärt«, sagt sie.
»Wirklich?«, wiederholt er. Nach seinem Ton und seinem Blick zu urteilen, scheint er sie zu fragen, ob sie beide wirklich echt sind, ob der Garten und die Grillen echt sind, ob die Nacht echt ist, die sie umgibt.
»Jaha«, sagt sie. Sie ist genauso erstaunt, ratlos und verunsichert.
»Und dann hat er eine Formel daraus abgeleitet?«, sagt er. »Um die Temperatur zu berechnen?«
»Jaha«, sagt sie in leicht singendem Tonfall. »Fast aufs Grad genau.«
»Kennst du sie?«, fragt er. »Die Formel?«
»In Celsiusgraden oder Fahrenheit?« Sie sind wie zwei Kinder, denkt sie, unter sich und abgeschottet von der Welt der Erwachsenen, dabei sind sie sich jedoch deren Regeln bewusst, die ständig unvermutet auftauchen können.
»Celsius«, antwortet er aufs Geratewohl.
Sie richtet sich auf. »Man muss die Anzahl des Zirpens pro Minute zählen, vierzig abziehen, durch sieben teilen und zehn dazuzählen«, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ach komm.« Er lacht, klatscht in die Hände.
»Ich schwör’s dir«, sagt sie, kann sich aber das Lachen nicht verbeißen.
Er erhebt sich leicht torkelnd aus dem Sesselchen und stellt sich vor sie hin: »Danke.« Mit zusammengelegten Händen macht er eine kleine orientalische Verbeugung, wie der Kellner bei Sonnenuntergang in der Bar.
»Wofür?« Sie stehen einander gegenüber: Das Gefühl von Nähe kommt und geht, kommt und geht.
»Für dieses Geschenk«, sagt er. »Dass du mir etwas beigebracht hast, was ich nicht wusste.«
»Aha.« Sie schwankt wieder. »Es ist mir einfach so eingefallen.«
»Also, welche Temperatur haben wir jetzt?«, sagt er.
»Weiß ich nicht.« Sie fragt sich, ob er versuchen wird, ihr näher zu kommen, und wie.
»Was soll das heißen?« Er lacht. »Man braucht doch nur das Zirpen zu zählen, oder?«
»Zähl du es.« Sie denkt, dass sie ihn näher bei sich möchte; oder weiter weg.
Stumm und reglos stehen sie beide in der vom Mondlicht erhellten Dunkelheit und lauschen der hohen Frequenz des Grillengesangs.
Zuletzt sagt er: »Ich schaffe es nicht.«
»Ich auch nicht«, erwidert sie.
»Du bist wirklich eine unglaubliche Frau, weißt du?«, sagt er.
»Wieso?« Sie denkt, dass sie sich vielleicht auch rückwärts fallen lassen könne, so wie er vorher, aber kein
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