Sie und Er
gar nicht mehr.
»Na, da muss man aber ziemlich weit zurückgehen«, erwidert Stefanos Mutter. »Als deine Familie noch im Planwagen hauste, haben wir hier schon ein ziemlich zivilisiertes Leben geführt, würde ich sagen.« Wieder lächelt sie auf ihre flüchtige Art, diesmal besonders grausig.
»Mama«, sagt Stefano. »Bitte!«
Sie haben ein Verhältnis wie ein altes Ehepaar, die zwei Panbiancos, gegründet auf tausend geerbte und erworbene, kompensatorisch entwickelte Ähnlichkeiten.
»Meine Güte, seid ihr empfindlich, Kinder«, sagt die Mutter. »Man darf nicht einmal mit einem Schuss Ironie ein paar einfache Betrachtungen anstellen.«
Clare fragt sich, was sie hier macht an diesem Tisch, mit dieser Zwei-Personen-Familie, die sich um sie schließt wie eine fleischfressende Pflanze. Sie versucht sich zu erinnern, ob Stefanos Verhältnis zu seiner Mutter auch zu dem Verhaltenskodex gehörte, den sie am Anfang so beruhigend fand, aber sie weiß es nicht mehr. In Wirklichkeit hat sie das Gefühl, seit Tagen nicht sehr klar zu sehen; seit Daniel Deserti ungebeten und unerwartet in San Minimo aufgetaucht ist. Dass er sich seit ihrer Rückkehr nach Mailand nicht mehr gemeldet hat, macht die Lage keinen Deut besser; im Gegenteil, der Gedanke schwirrt dauernd durch ihre innere Landschaft und destabilisiert sie.
»Jedenfalls waren meine Betrachtungen durchaus positiv«, sagt Stefanos Mutter. »Mir scheint nicht, dass sie irgendwie auf deine Kosten gingen, meine Liebe.«
Clare achtet nicht auf ihr Lächeln, das immer eine Falle ist, sondern konzentriert sich auf die Reste auf ihrem Teller.
Zwei oder drei Minuten essen sie schweigend, Mutter und Sohn mit demonstrativ geradem Rücken, die Ellbogen eng an den Oberkörper angelegt; man hört nur das Klappern der Gabeln auf den Tellern, die mahlenden Kiefer. Wie lächerlich ihr würdevolles Gehabe ist, denkt Clare, während sie hier sitzen und sich das Essen in den Mund schaufeln und kauen und hinunterschlucken, während Zähne und Zungen arbeiten, Speichel und Magensäfte ihren Dienst tun. Die kahle Ordnung des Esszimmers bewirkt, dass sich Clares Muskeln und Gedanken verkrampfen, dass sie die Luft als noch stickiger empfindet. Und dennoch sind Mutter und Sohn hier, um ihr verbindliche Angebote zu machen, sie vor ihr auf den Tisch zu legen. Clare fühlt sich schuldig, weil es ihr nicht gelingt, dankbar zu sein, aber am liebsten möchte sie aufspringen, zur Tür gehen und die Treppe hinunterlaufen, um sich in die Suche nach jener glühenden und verkehrten Intensität zu stürzen, die sie hier ganz bestimmt nie erleben wird.
»Wie geht es bei der Arbeit?«, fragt Stefanos Mutter sie.
»Gut«, antwortet Clare. Ein Wust von Empfindungen und Gedanken erfüllt sie: Blicke, Hände, Muskeln, Körpersafte, Hitze, Atem, sie verspürt das verzweifelte Bedürfnis, den Abstand zu verringern, gleichzeitig bleibt sie aus diffuser Unsicherheit auf Distanz.
»Du denkst aber nicht daran, auf die Dauer Telefonistin zu bleiben, oder?« Stefanos Mutter zeigt wieder ihr kleines falsches Lächeln. »Da gehe ich doch davon aus.«
»Ich arbeite nicht als Telefonistin.« Clare unterdrückt mühsam den Impuls, wenigstens den Teller mit dem Rest Reissalat umzuwerfen.
»Mama, sie ist keine Telefonistin«, sagt Stefano so zahm, dass er es auch gleich bleibenlassen könnte.
Clare hat derweil eine dreidimensionale Vision von Daniel Deserti, wie er in dem kleinen Garten mit den Olivenbäumen auf dem ligurischen Hügel vor ihr steht, während die Sonne sie blendet und die Zikaden unermüdlich kreischen: wie unglaublich eigentümlich und gefährlich ihre Begegnung war.
»Schon gut, schon gut, dann ist sie eben keine Telefonistin«, sagt Signora Panbianco, als wäre sie gezwungen, ihren Wortschatz zu vereinfachen, damit sie über das kulturelle Gefälle hinweg verstanden wird. »Aber ich vermute, diese Art von Tätigkeit bietet keine großartigen Aufstiegschancen, oder?«
»Nein.« Clare gibt dem Druck ihres Blicks nicht nach.
»Wir werden ja sehen«, sagt Stefano, als stünde ihm die endgültige Entscheidung über Clares Berufstätigkeit zu.
»Wichtig ist nur zu verstehen, warum man etwas macht, was der Grund dafür ist«, sagt seine Mutter.
Clare kommt es auf einmal so vor, als bezögen sich die beiden Panbiancos nicht auf ihre Arbeit, sondern auf die unerklärliche Anziehung, die Daniel Deserti auf sie ausgeübt hat, und dann auf die ebenso unerklärliche Distanz, die sich zwischen ihnen
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