Sie und Er
ausgebreitet hat, auf die Gefühle, die sie immer wieder empfindet, seit sie auseinandergegangen sind. Ihr Herz klopft schneller; sie hätte Lust, ihre Unruhe offen auf den Tisch zu legen, so wie die beiden ihre Angebote. Dafür gibt es nicht nur einen Grund, würde sie gern sagen, sondern viele Gründe, die bruchstückhaft und widersprüchlich sind: alles, was man suchen und wollen und sich erträumen kann, wobei man nie sicher sein kann, dass man es überhaupt erkennt, falls man es zufällig findet.
»Wir werden sehen, Mama«, wiederholt Stefano.
Seine Mutter lässt ihren Blick zu Clare wandern, und ihr Ausdruck verrät immer noch Befremden, kaum merklich, aber es ist vorhanden. »Kommt ihr nun nach Ovada, ja oder nein?«, fragt sie. »Ich warte immer noch auf eine Antwort auf meine Einladung.«
»Hast du bei der Arbeit nachgefragt?«, will Stefano wissen. »Ob du wenigstens zwei Wochen freibekommst, im August?«
»Zwei Wochen geben sie mir bestimmt nicht«, erwidert Clare. »In der Zeit ist mehr zu tun als im ganzen restlichen Jahr. Im August sind Millionen von Leuten unterwegs.«
»Vielleicht, wenn du ihnen erklärst, dass es sich um eine familiäre Verpflichtung handelt«, sagt Lorella Panbianco. »Ich meine nur.«
»Ich glaube, das ist denen ziemlich egal«, sagt Clare. »Sie haben einfach nicht genug Personal für die viele Arbeit, vor allem im Sommer.« Sie versucht sich dem vereinten Drängen von Mutter und Sohn zu entziehen, indem sie eine der Techniken anwendet, die ihr Vater sie und ihre Schwestern gelehrt hat: keinen frontalen Widerstand leisten, versuchen, den Stoß abzulenken.
»Na, aber das ist doch deren Sache«, sagt Stefano. »Du bist schließlich nicht dazu da, betriebsinterne Mängel auszugleichen.«
»Genau«, bekräftigt seine Mutter. »Falls sie sich dann taub stellen sollten, haben sie dich halt gesehen. Ich vermute ja sowieso, dass du nicht gerade reich wirst, indem du dort am Telefon hängst, oder?«
Clare antwortet nicht; sie denkt an die englischen und italienischen Ausdrücke für angeheiratete Familienbeziehungen. Die englischen Formen mother-in-law, father-in-law, sister-in-law und so weiter scheinen ihr Frucht einer konsequenten Logik zu sein, die einem einerseits eine Mutter oder einen Vater oder eine Schwester schenkt und andererseits die permanente Einmischung des Gesetzes in dein Privatleben anzeigt. Die italienischen Bezeichnungen hingegen stellen die gleichen Verhältnisse ganz anders dar: Die Wörter suocera und suocero - Schwiegermutter und Schwiegervater - klingen wie die Namen von wilden Tieren mit Borsten und Stoßzähnen aus dem Dschungel; nuora und genero - Schwiegertochter und Schwiegersohn - sind von beleidigender Unbestimmtheit, an der Grenze der Verneinung. Zwei Passagen aus Daniel Desertis Buch, das sie im Zug gelesen hat, kommen ihr in den Sinn: In einer schreibt er, dass die Wörter nie unschuldig sind, auch wenn sie so tun; in der anderen bezeichnet er die Familien als »Kleintheater, in denen schlechte Schauspieler vor Zuschauern, die an ihre Stühle gekettet sind, unentwegt dasselbe miserable Stück aufführen«. In ihrer Eigenschaft als Tochter und angekettete Zuschauerin kann sie das nur bestätigen. Sie hätte sich gern mit ihm darüber unterhalten, als sie zusammen an der Küste waren, wie sie auch über vieles andere noch gerne mit ihm gesprochen hätte.
Stefano steht auf und räumt die Teller ab. Das macht er nur bei seiner Mutter; wenn er mit Clare zusammen isst, kommt er gar nicht auf die Idee, sondern findet es selbstverständlich, dass sie sich darum kümmert.
»Warte, Ste, lass nur«, sagt die Mutter, zu spät; sie folgt ihm in die Küche.
Vielleicht, denkt Clare, verbirgt sich hinter der bevormundenden Haltung der beiden ein Beschützerinstinkt, für den sie dankbar sein müsste anstatt genervt. Sie stellt sich die Blicke vor, die Mutter und Sohn Panbianco jetzt gewiss in der Küche wechseln, die leise geflüsterten Worte. Sie steht auf, schaut ohne jeden Grund in ihre Handtasche, die in einer Sofaecke liegt. Auf dem Display des Handys steht angekommene Nachricht. Daniel Deserti schreibt: Sehen wir uns?
Sie lässt das Handy fallen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen: Das Herz klopft ihr bis zum Hals.
»Chiara, willst du einen Espresso?«, ruft Stefano aus der Küche. Clare zuckt zusammen.
»Nein danke, wirklich«, ruft sie zurück. »Ich verschwinde einen Moment.« Sie nimmt die Tasche und geht rasch durchs
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