Sie und Er
erzählt von einem Teilhaber, der seit Jahren versucht, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet; die Mutter sagt: »Wie auch immer, mein lieber Ste, >den Ansichten der Feinde soll man stets die nötige Aufmerksamkeit schenken<.«
»Carducci«, sagt Stefano automatisch. Er sieht sie mit einem kleinen Lächeln an, wartet auf Bestätigung.
Die Mutter spannt die Muskeln rund um den Mund an, ein rasches Licht blitzt in ihren kleinen grauen Augen auf: Befriedigung, dass sie ihren Sohn vom zartesten Alter an in die Werke der bedeutendsten Dichter eingeführt hat. Sie wendet sich zu Clare: »Du weißt vermutlich nicht, wer Giosue Carducci ist, oder, Chiara?«
»Selbstverständlich weiß ich das«, erwidert Clare.
»Wirklich?«, staunt Stefanos Mutter. »Und wie das?«
»Meine Großmutter Amanda rezitierte ab und zu Gedichte von ihm«, sagt Clare.
»Na so was!« Stefanos Mutter spitzt die Lippen und schüttelt kaum merklich den Kopf.
»Ja«, bestätigt Clare. »Manchmal zitierte sie auch einen seiner denkwürdigen Sätze.«
»Ach ja?«, sagt Stefanos Mutter. »Welche denn, zum Beispiel?«
»Jetzt weiß ich gerade keinen.« Clare ist abgelenkt von den feinen waagrechten Falten über den blassen, trockenen Lippen ihrer Gesprächspartnerin.
»Nun gut, einer wird dir schon noch einfallen, nicht wahr?«, sagt Stefanos Mutter. »Wenn es denkwürdige Sätze waren, oder?«
»Warte«, sagt Clare. »>Wer fähig ist, in zwölf Worten zu sagen, was auch in zehn gesagt werden kann, ist auch zu jeder anderen Bosheit fähig.<«
Halb erstaunt, halb beunruhigt hebt Stefano den Blick und sieht sie an. Seine Mutter lächelt kalt. »Ich glaube, es heißt >zwanzig<, Chiara. Zwanzig Wörter.«
»Zwölf«, sagt Clare. »Der Punkt ist, dass es nur um ein paar Wörter mehr geht. Nicht um das Doppelte.«
Stefanos Mutter schaut sie an, als hätte sie soeben eine schallende Ohrfeige bekommen: Sie bläht die Nasenflügel, schnaubt leicht.
»Großmutter Amanda, hm?« Stefano macht einen schüchternen Versuch der Entspannung. »Sie muss eine großartige Person gewesen sein.« In Wirklichkeit hat er nie viel Interesse für Clares Familie gezeigt, außer ganz am Anfang, als er meinte, diese Geschichten seien Teil der ausländischen Folklore.
»Kurzum«, sagt Lorella Panbianco, erneut zu Clare gewandt, »da musste eine Amerikanerin kommen, um Ste zu dem großen Schritt zu bewegen, hm?«
»Zu welchem großen Schritt?« Clare wird plötzlich nervös.
»Nun, die neue Wohnung, zusammenzuziehen.« Stefanos Mutter reagiert leicht gereizt darauf, dass ihre Worte nicht sofort richtig gedeutet werden. »Mir scheint das nicht wenig.«
Clare würde ihr gern antworten, dass sie ja eigentlich schon vor zweieinhalb Jahren das Zusammenleben geprobt haben, als Stefano sie überredet hatte, ihr Leben in Ligurien aufzugeben und nach Mailand zu ziehen, bloß um dann zu entdecken, dass er so viel Nähe gar nicht ertrug.
»Lass nur, Mama.« Mit gesenktem Blick sucht Stefano mit der Gabel nach den Wursträdchen im Reissalat.
»Stimmt doch«, sagt seine Mutter. »Bei deinen bisherigen Freundinnen hast du immer sorgfältig darauf geachtet, dir deine Unabhängigkeit zu bewahren. Sobald sie sich etwas mehr an dich hängten, Gott bewahre. Offenbar haben sie immer die falsche Taktik gewählt, die Ärmsten.«
Clare fühlt ihr Blut plötzlich kochen, ihr Gesicht glüht vor Wut: »Ich habe keinerlei Taktik angewendet. Und ich habe mich noch nie an irgendwen gehängt. Mir geht es prima, so wie ich lebe. Und vorher ging es mir auch prima.«
»Siehst du?«, sagt Stefanos Mutter: Ihre Lippen entblößen ganz kurz die Zähne, dann verdecken sie sie wieder. »Darin liegt deine Stärke. Wirklich der Charakter einer Pionierin.«
»Könnten wir bitte das Thema wechseln?«, fragt Stefano.
»Aber es ist doch wahr«, sagt seine Mutter. »Wenn du an ihre Vorfahren denkst, die im Planwagen zwischen Wüsten und Bergen durch den Staub reisten, in brütender Hitze und schrecklicher Kälte, mit wilden Bären in den Wäldern und Indianern, die sie mit Pfeilen beschossen. Um zu überleben, mussten sie recht widerstandsfähig und entschlossen sein, das steht fest.«
»Und eure Vorfahren haben in Ruinen gelebt, wenn wir es so betrachten wollen.« Clare würde am liebsten den Tisch umwerfen, samt allem, was darauf ist. »Unter der Herrschaft des Erstbesten, der Lust hatte, das Land zu überfallen.« Dass ihr Vater italienische Wurzeln hat, sagt sie
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