Sie und Er
schließen scheint, auf den Gang hinaus. Er ist fassungslos, dass alles, was er im Lauf der Jahre erworben zu haben glaubte, ihm jetzt gar nichts nützt: Alle seine Überzeugungen haben sich in dem Lärm und in der Hitze aufgelöst, im Schweiß, der ihm über Stirn und Achseln und Rücken läuft. Er rückt seine dunkle Brille zurecht, schaut wieder aus dem Fenster und versucht, eine möglichst unbeteiligte, lässige Haltung einzunehmen, um den Mangel an Kontrolle zu kaschieren, der gleich darunter lauert.
Außerdem ist die Reise auch zu kurz: Sie lässt nicht genügend Raum für eine Entwicklung. Im einen Augenblick befinden sie sich erst auf halber Strecke, müssen noch ganze Gebirge durchqueren, und im nächsten fahren sie schon in den Mailänder Bahnhof ein, werden auf dem Gang von anderen Passagieren angerempelt, die den vorderen Waggontüren zustreben, damit sie schon ein paar Meter gewonnen haben, bevor der Zug hält. Auch sie stehen beide auf, er ganz ohne Gepäck, sie mit ihrem kleinen kanadischen Rucksack. Als der Zug endgültig bremst, stoßen sie aneinander. Es brauchte nicht viel, denkt er, um sie an sich zu ziehen und sie zu küssen, wie er es in der vergangenen Nacht nicht getan hat; es wenigstens zu probieren. Aber die Signale zwischen ihnen sind zu unklar und haben sich scheinbar verschlechtert, zu viele Geräusche und Bewegungen und mechanische Abläufe füllen den Raum rundherum, der Augenblick ist vorbei.
Sie steigen aus, auf dem Bahnsteig herrscht feuchte Hitze, verstärkt durch die Glasgewölbe, die den Bahnhof in ein riesiges, stumpfes, rostiges Gewächshaus verwandeln; ohne sich anzuschauen gehen sie in dem Strom von Rücken und Beinen und Koffern und Schuhen und Haaren und Profilen und Bruchstücken von Gesprächen. Am Kopf des Bahnsteigs angekommen, teilt sich der Fluss der Passagiere in Rinnsale, die sich rasch in unterschiedlichen Richtungen verlaufen. Endlich wendet er sich ihr zu, möchte etwas sagen oder eine Geste machen. Auch sie dreht sich um, hebt die Sonnenbrille: flatternd, unsicher, besorgt, nicht rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.
Und sofort schieben sich wieder Reisende mit Taschen und Rucksäcken und Rollkoffern zwischen sie, Stimmen aus Lautsprechern, Lärm von Presslufthämmern, Kreischen von Metall auf Metall, eine ganze Stadt, die sie von außen belagert. Sie und er können zum Abschied nur noch die Hand heben, bevor sie sich unter Hunderten von dahineilenden Fremden verlieren und von zwei getrennten Strömungen weggeschwemmt werden.
Stefanos Mutter hat heute einen etwas anderen Blick als sonst
Stefanos Mutter hat heute einen etwas anderen Blick als sonst: In kleinen Happen isst sie ihren Reissalat und lässt die Augen von ihrem Sohn zu Clare wandern, halb voreingenommen, halb besorgt. Ihr Lächeln ist allerdings so künstlich und gefährlich wie immer: Es verflüchtigt sich umgehend, wenn jemand es für ehrlich hält und zurücklächelt. Bei jedem Besuch bemüht sich Clare, unbefangen auf sie zuzugehen, aber es fällt ihr nicht leicht, bei dieser Kombination aus Überfürsorglichkeit gegenüber Stefano, Hang zur Familienverklärung, Prahlen mit Schulbildung und schwerverständlichem Humor. Anfangs lachte sie manchmal über etwas, das sie für einen Witz hielt, und entdeckte dann, dass es zynisch gemeint war. Stefano ist in solchen Fällen nicht sehr hilfreich, denn seiner Mutter gegenüber schwankt seine Haltung gewöhnlich zwischen Irritation und Mitverantwortung. Dass sein Vater mit der zwanzigjährigen Sekretärin nach Costa Rica durchgebrannt ist, als er vierzehn Jahre alt war, hat eindeutig dazu beigetragen, das sowieso schon enge Verhältnis zwischen Mutter und Sohn Panbianco noch mehr zu festigen. Jedes Mal, wenn Clare versucht, mit ihm darüber zu reden, reagiert er, als würde ihn das in seinen Grundfesten erschüttern; das Thema ist abgeschlossen, man darf nicht daran rühren.
Jetzt handhabt Lorella Panbianco das Besteck mit übertriebener Akkuratesse, während sie Stefano nach den neuesten Verschiebungen im Machtgefüge der Rechtsanwaltskanzlei fragt, in der er Juniorpartner ist. Das Wohn- und Esszimmer ist erstickend, die Rollläden sind halb heruntergelassen, die Fenster geschlossen, weil die Dame des Hauses nicht nur gegen Klimaanlagen und Ventilatoren ist, sondern auch gegen Zugluft. Der Reis wiederum kommt direkt aus dem Kühlschrank, die Essiggürkchen haben jedes Reiskorn mit Säure durchtränkt, die Käsewürfel schmecken wie Gummi. Stefano
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