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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Beziehungsschwierigkeiten mit seinen Kindern und der Häufung unbefriedigender Liebesaffären liegen, im zunehmenden Desinteresse an anderen Menschen und in der wachsenden Skepsis bezüglich der Idee, dass die Welt je ein besserer Ort werden könnte, als sie ist. Wahrscheinlich, denkt er, hat unter all dem sein Urteilsvermögen gelitten, weshalb er eine Frau extrem interessant findet, die vermutlich nichts anderes als durchschnittlich ist. Auch das kennt er längst: Er kann sich eine ganze Palette von Blicken und Lächeln und Bewegungen und Sprechweisen ins Gedächtnis rufen, die ihm wie die Materialisierung von Träumen oder wie Offenbarungen vorgekommen waren, bloß um sich dann im Lauf weniger Minuten oder Tage oder höchstens Wochen akkurater Beobachtung als ganz gewöhnlich herauszustellen. Dass er Clare Moletto nicht sofort der gleichen Prüfung unterziehen kann, sondern in dieser zermürbenden Unsicherheit leben muss, bis sie beschließt, einen Schritt zu tun, frustriert ihn. Sie anzurufen oder ihr noch eine Nachricht zu schicken, ist ausgeschlossen: Also tigert er weiter in der Falle hin und her, die er sich selbst gebaut hat, und wartet, dass sie sich meldet, wie sie versprochen hat.
    Er setzt sich an den Tisch vor dem Fenster, versucht, etwas zu schreiben, aber alle Ideen, die er seit Monaten umkreist, scheinen künstlich und falsch zu sein und keine Verbindung zum Leben zu haben. Er sichtet die Unmengen von verschiedenfarbigen Zetteln, die an die Korktafel an der Wand gepinnt sind, mit Namen von Gestalten und Orten, einzelnen Sätzen, Dialogfetzen, Themen, Motiven, und es ist kein einziger dabei, der ihn weiterbringen könnte.
    Er öffnet seine Mailbox: Sie quillt über von unbeantworteten E-Mails, einige davon sind mit kleinen roten Ausrufezeichen versehen, um ihre Dringlichkeit zu unterstreichen. Er lässt sie durchlaufen, ohne sie aufzumachen, empfindet jedes Mal flüchtig Erleichterung, wenn er auf Werbung stößt oder auf einen Newsletter oder auf Spam, zwischen all den Mails von Verlegern und Übersetzern und Frauen, von denen er lange nichts gehört hat, und Freunden, die er schon fast vergessen hat, und von seinem Steuerberater, den er anrufen müsste, und all den anderen Leuten, die aus irgendeinem Grund hinter ihm her sind, auch wenn er sich keinen Deut um sie kümmert. Er schließt das Postfach wieder und öffnet ein paar Ordner, die Notizen oder Entwürfe für nicht ausgearbeitete Seiten enthalten; er liest eine Weile, rekonstruiert einige Sätze, fügt hier ein Wort ein, nimmt dort eines weg. Doch es ist, als bemühte er sich, an diesem unerträglich heißen Nachmittag den Frost des Polarwinters auf der Haut zu spüren. Das Einzige, worüber er ziemlich sicher schreiben könnte, ist sein Überraschungsbesuch bei Clare Moletto auf den ligurischen Hügeln gleich hinter dem Meer: wie sie barfuß in den kleinen verwilderten Garten mit den Olivenbäumen tritt, warmes Licht in den Haaren. Alle Elemente sind vorhanden, die Empfindungen, die Bewegungen, die Blicke, die Worte. Es ist ein wandelbarer Stoff, der ihm durch den Kopf geht und sich weder festhalten noch definieren lässt. Doch er würde ihn nicht verwenden, auch wenn er könnte: Es käme ihm vor wie ein abscheulicher Versuch, die Schwingung eines freien Augenblicks zu fixieren. Wieder meint er, dass er seine Tätigkeit überhaupt nicht liebt, und noch weniger all das, was sie im Lauf der Jahre erst zu einer Arbeit gemacht hat: die geistige Übung, die tägliche Praxis, die Disziplin.
    Er schaltet den Computer aus, geht in die Küche, schenkt sich drei Finger hoch eisgekühlten Wodka ein. Der erste Schluck hilft so wenig, dass er den Rest ins Spülbecken kippt, als stünde seine Tochter Jenny noch daneben und schaute zu. Er geht zurück ins Wohnzimmer, wirft einen Blick auf das Handy: Auf dem Display steht eingegangene Nachricht. Er sieht sofort nach, aber die Nachricht stammt von einer gewissen Adalind aus Amsterdam, mit der er vor einigen Jahren fünf oder sechs enttäuschende Tage verbracht hat; wutentbrannt löscht er sie, ohne sie überhaupt zu lesen.
    Er geht ins Zimmer seiner Kinder, knipst das elektronische Keyboard an, das er Jenny geschenkt hat, spielt einen Boogie in G-Dur, grob und hämmernd. Die Finger gleiten an den Kanten der Tasten ab, die Töne überlagern sich oder verklingen zu rasch; nach ein paar Minuten gibt er es auf, schaltet das Keyboard wieder ab, schüttelt die Hände, als wollte er die absurde Idee, Musik zu

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