Sie und Er
einem Theater im Zentrum von Mailand. Der Titel des Abends lautet: Deserti, Farul, Olacin: drei Kontinente des Erzählens. Sie zuckt zusammen, fühlt, wie sie rot wird, ihr Herz rast. Sie speichert Ort und Zeit im Kalender ihres Handys. Wie er wohl reagiert, wenn er sie im Publikum entdeckt? Mit verschlossenem Gesicht, als kennte er sie gar nicht; mit einem vagen Kopfnicken; mit einem offenen, strahlenden Lächeln, wie in dem Augenblick, als er sie unter der sengenden Sonne vor ihrem kleinen Haus auf dem Hügel gesehen hat? Wer weiß. Sie mag jetzt nicht darüber nachdenken.
Stattdessen duscht sie, versucht, die Ratlosigkeit abzuwaschen, die wie Schweiß an ihr klebt an diesem unerträglich heißen Abend.
Die von der Presseabteilung des Zattola Verlags haben ihn mit der üblichen Methode geködert
Die von der Presseabteilung des Zattola Verlags haben ihn mit der üblichen Methode geködert, indem sie ihm diesen Auftritt schon im Januar vorgeschlagen haben, als Ende Juli noch in weiter Ferne lag, im Reich der Hypothesen wie das Schmelzen der Pole oder die Fertigstellung seines neuen Romans oder die Begegnung mit der Frau seines Lebens oder wer weiß was. Dann war die Zeit unaufhaltsam vergangen, Monat für Monat vom Kalender verschluckt, als würden die einzelnen Tage gar nicht zählen, und nun sitzt er hier auf einem zu weichen Sesselchen, das ihn zwingt, sich vorzubeugen, damit er vor dem Publikum im Saal eine einigermaßen würdevolle Haltung bewahrt.
Rechts und links von ihm sitzen auf identischen Sesselchen Omar Faruk, der ägyptische Schriftsteller, unter anderem Autor von Tatale Ufer, und Semen Olacin, der kirgisische Schriftsteller, der im vorigen Jahr mit seinem Roman Die Intelligenz des Nebels den Booker Prize gewonnen hat. Außerdem ist noch Amedeo Tascato da, der für die Tageszeitung La Repubblica schreibt, eine sehr dünne und nervöse Übersetzerin namens Donatella Cardamomo und ein weiterer Übersetzer oder Dolmetscher, dessen Namen Deserti nicht verstanden hat. Jeder mit seinem ans Revers geklemmten Mikro, dem Kabel und dem Senderkästchen in der Tasche. Vorher, als sie hinter der Bühne in der Garderobe warteten, haben sie sich die Hand geschüttelt und ein paar Floskeln ausgetauscht, doch obgleich Deserti, Faruk und Olacin sich dem Namen nach kennen und sich schon auf etlichen internationalen Kongressen getroffen haben, sind sie keineswegs Freunde und haben auch die Bücher der anderen nicht gelesen. Jetzt ist jeder der drei ausschließlich auf seine Selbstdarstellung konzentriert, vom Gesichtsausdruck bis zur Haltung auf den zu weichen Sesseln.
Tascato hält eine gewundene Einführung, deren Ziel es ist, die Bedeutung der drei Schriftsteller und somit des Abends und auch seiner selbst als Moderator gebührend hervorzuheben. Ausführlich geht er auf Bio- und Bibliographien ein, verrenkt sich, um Verbindungen zwischen Werken herzustellen, die nichts miteinander zu tun haben. Die Cardamomo flüstert schnell in Olacins Ohr, der andere Dolmetscher macht es ebenso mit Faruk, der jedoch ziemlich uninteressiert wirkt, ins Publikum schaut und mit dem Fuß wippt. Deserti wiederum ist hauptsächlich auf das Brummen der alten Klimaanlage konzentriert und streckt alle paar Minuten die Hand nach dem Wasserglas aus, das vor ihm auf dem Tischchen steht.
Schließlich beendet Tascato seine Einführung und geht zu den Fragen an die drei Schriftsteller über, will ihnen geistreiche Stichworte zuwerfen, die bei der Simultanübersetzung verlorengehen und verspätete, unsichere Reaktionen hervorrufen. Das Publikum ist schläfrig, halb hypnotisiert und halb zerstreut, wie gewöhnlich bei solchen Anlässen: Deserti kann von der Bühne aus nur die Gesichter in der ersten Reihe erkennen, selbst da sitzen Leute, die schwatzen, Leute, die sich umschauen, wer noch im Saal ist. Armando Zattola checkt sogar seine sms, in den Sitz gelümmelt, der ihn kaum fassen kann. Vielleicht um etwas Schwung hineinzubringen, fragt Tascato an einem bestimmten Punkt alle drei, aus welchem Grund sie zu schreiben begonnen haben und warum sie weiter schreiben. Natürlich denkt keiner der drei auch nur einen Augenblick daran, ehrlich zu sein: Im Gegenteil, sie wetteifern darin, wer den eindrucksvollsten Satz findet, um die Vorstellung zu festigen, dass ihre Arbeit von unvorhersehbaren höheren Mächten abhängt. Was sie gemeinsam haben, ist eine sehr hohe Meinung von sich selbst und die entsprechende Entschlossenheit, sich von dem, der
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