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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Mienen zu schließen, einschließlich der von Tascato auf der Bühne und von Zattola in der ersten Reihe, scheinen alle einen heftigen, polemischen Beitrag zu erwarten, vielleicht sogar auch ein menschliches und künstlerisches Geständnis an der Grenze zur selbstmörderischen Verzweiflung: Da ist dieses kollektive Atemholen, ein Meer voyeuristischer Erwartung, das sich vor ihm auftut.
    Stattdessen nimmt er das Mikro ab, legt es zusammen mit dem Kabel und dem Kästchen auf den Tisch, geht auf direktem Weg hinter die Kulissen; er steigt das Treppchen hinter der Bühne hinunter, eilt den neonbeleuchteten Korridor entlang, bis er das Foyer erreicht, durchquert es im Laufschritt, verlässt das Theater. Draußen auf der Straße sieht er sich um, es ist immer noch heiß und laut: von Clare Moletto keine Spur, nirgends.
    Er holt das Handy aus der Tasche, schaltet es ein, sucht im Adressbuch. Doch gleich darauf kommt es ihm sinnlos vor, sie auf diese leichte und feige Art zu verfolgen, nachdem sie so gegangen ist, wahrscheinlich angewidert von dem, was er gesagt hatte, oder einfach gelangweilt, überdrüssig, weil jede noch übrige Neugier erschöpft war. Er steckt das Handy wieder ein, zieht die viel zu warme Jacke aus, geht durch die im fahlen Abendlicht versunkene Stadt.
     
    Sie macht zusammen mit fünf oder sechs Kollegen Feierabend, die die gleiche Schicht hatten
     
    Sie macht zusammen mit fünf oder sechs Kollegen Feierabend, die die gleiche Schicht hatten, und fährt mit ihnen im Aufzug hinunter, während sie über Arbeitszeiten und Wochentage sprechen. Kaum tritt sie aus der Glastür des Hochhauses der Great Assistance, sieht sie Stefano, der dort auf dem Bürgersteig auf sie wartet. Nichts an seinem Äußeren ist überraschend: die leicht getönte Brille, das hellblaue Baumwolljackett, das hellblaue Hemd darunter, die cremefarbene Hose, die hellen Mokassins: Es ist das gleiche beruhigende Ensemble wie bei ihrer ersten Begegnung im Hotel in Santa Margherita, vor drei Jahren. Und doch beruhigt es sie jetzt überhaupt nicht; im Gegenteil, als sie ihn plötzlich vor sich sieht, zuckt sie zusammen, ihr Ausdruck gerät aus den Fugen, ihr Schritt aus dem Takt.
    Er umarmt und küsst sie, als hätten sie sich wer weiß wie lange nicht gesehen, auf dem Asphaltstreifen zwischen den Hochhäusern, wo der Autolärm der breiten Verkehrsstraße anbrandet und sich die Hitze staut. Nachdem er sich mehr als zwei Jahre wie ein in seinem Versteck aufgestöberter Single benommen hat, ist er in letzter Zeit wahrhaft kontaktsüchtig: wie er sie an sich drückt, ihr über den Kopf streicht, sich umsieht, als wollte er sich versichern, dass niemand ihm seinen Besitz streitig macht. Sie denkt an die verschiedenen Phasen seiner Liebesbeweise, die beharrlichen, komisch formalen Galanterien, als sie sich gerade kennengelernt hatten, den demonstrativen Sex, als er überzeugt war, mit Albertos morbidem Verhalten wetteifern zu müssen, bis hin zu der Überschwenglichkeit, die seine Verlegenheit kaschieren sollte, wenn sie sich in der Öffentlichkeit befanden, sie erinnert sich an ihr anfängliches Zusammenleben, daran, wie rasch sich alles stabilisierte, an die plötzlichen wütenden Forderungen nach Autonomie, als er sich eingeengt fühlte, an die verzweifelte Abbitte gleich danach, an die Trotzphase, die erneuten Absichtserklärungen, die konkreten Vorschläge, die er in immer kürzeren Abständen und mit immer mehr Druck vorlegte. Jetzt hängt er an ihr wie ein leicht zwanghafter Verliebter, der darauf brennt, Pläne zu verwirklichen, die lange auf zu viel Widerstand gestoßen waren, und endlich konkrete Schritte zu unternehmen, um ein gemeinsames Leben aufzubauen. Diese Metamorphose erfüllt sie mit Staunen und Besorgnis, sie fragt sich, ob die inneren Prozesse bei Männern anders ablaufen als bei Frauen, wie sehr jeweils Tatsachen und Absichten auseinanderklaffen und inwieweit Empfindungen und Gefühle kontrollierbar sind.
    Wenn sie an ihre eigene innere Wandlung ihm gegenüber denkt, fällt ihr ein, wie neugierig, aber auch wie reizbar sie am Anfang war und wie sehr sie sich von Verhaltens- und Seinsweisen angezogen fühlte, die sie nie aus der Nähe kennengelernt hatte, darauf folgte ihr Wunsch nach Verwandlung, ihre teilweise Abhängigkeit, als sie sich wie ein Flüchtling vorgekommen war, und später die Enttäuschung, die Distanz und die erneute Gereiztheit, die Gewohnheit, die Langeweile, die Routine, und jetzt sogar diese leichte

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