Sie und Er
vorher oder nachher spricht, nicht in den Schatten stellen zu lassen.
Wie peinlich es ist, mehrere Schriftsteller auf einmal am selben Ort zu sehen, denkt Deserti. Das gleiche Gefühl hatte er, als er mit seinen Kindern zwei- oder dreimal eine Hundeausstellung besuchte: Die Begeisterung war nach den ersten Minuten erschöpft, verdrängt vom Geruch nach Sägemehl, Pipi, feuchtem Fell und Deodorant, von der unbeschreiblichen Traurigkeit der geschlossenen und offenen Käfige und des neurotischen Stylings in letzter Minute samt allem, was dazugehört: Paradevorführung an der Leine, Begutachtung der Hunde in einer Reihe, langwierige Vermessung in der klassischen Position, zermürbendes Warten, verhaltenes Knurren, Beschnuppern aus der Entfernung. Und rundherum die Züchter und Ausbilder, Begleiter und Aussteller, durch Interessenkonflikte beeinträchtigten Schiedsrichter, Fachjournalisten, die nicht wissen, worüber sie reden, und ein banausenhaftes Publikum, das Bestätigungen und Erklärungen braucht, um zu erfahren, was am schönsten und am besten ist und wo es etwas zu bestaunen gibt.
Im Vergleich zu den Hundeausstellungen gibt es hier auch noch die sorgfältig gewählten Adjektive, die einstudierten Sätze, um das Publikum zu überraschen und zu beeindrucken, die falsche Bescheidenheit als wirksamste Waffe der offenen Anmaßung, die witzigen Bemerkungen, die improvisiert wirken, aber im Lauf von Monaten oder sogar Jahren perfektioniert wurden, den Austausch falscher Versicherungen gegenseitiger Hochachtung, das gespielte Interesse und Verständnis. Deserti lauscht der Stimme seiner Kollegen und seiner eigenen und findet es grässlich, auf dieser Bühne zu sein. Jedes Mal, wenn er Zattola in der ersten Reihe sitzen sieht, der ihn mit dem Ausdruck einer wohlgenährten Sphinx fixiert, möchte er ihn anschreien, ihn am liebsten anspucken. Als er sich die Szene vorstellt, muss er lachen; er lacht. Olacin, der gerade in ausgefeilten Bildern die Entwicklung von der keimenden Idee bis zum unaufhaltsamen Wachstum der üppigen Pflanze der Erzählung schildert, dreht sich um und sieht ihn vorwurfsvoll an.
Tascato beendet seine erste Fragerunde und macht dann sofort weiter; Deserti ist gezwungen, mit Wortgebäuden zu antworten, die mindestens ebenso elegant, brillant und mit abgehobenen Metaphern gespickt sind wie die seiner Kollegen. Nicht dass er damit Mühe hätte: Er beherrscht dieses Spiel ebenso gut, wie er bei einem offiziellen Essen Messer und Gabel handhaben kann. Er könnte auch Bücher wie die von Faruk und Olacin schreiben, wenn er wollte. Ein paarmal hat er es sogar ernstlich erwogen: sich einen Namen und eine Biographie und womöglich ein Gesicht zuzulegen, die den Autor einem kulturell benachteiligten Teil der Welt zuordnen, aus vielen geographischen und psychologischen Klischees einen Roman zusammenzubasteln, ihn einem Agenten anzuvertrauen, bei Erscheinen die Reaktionen zu genießen. Er ist fast sicher, dass so ein Roman viel mehr Aufmerksamkeit erregen und viel mehr Begeisterung wecken würde als seine letzten Bücher: Die gebildeten Leser würden ihn mit der gleichen Lust am Ungewöhnlichen kaufen, mit der sie in einem Fünf-Sterne-Restaurant Seebarschravioli mit Blaubeersauce bestellen, die weniger gebildeten würden sich nach Belieben einschüchtern und gefügig machen lassen.
Das Problem ist, dass ihm die ganze Inszenierung samt seiner eigenen Rolle dabei immer mehr zuwider ist. Ihm ist, als säße er im Publikum und sähe und hörte sich von außen, und das steigert seine Verlegenheit darüber, hier mit den anderen beiden öffentlich über eigentlich vollkommen private Fragen zu diskutieren, so wie sich die Patienten im Wartezimmer eines Gastroenterologen gegenseitig mit plastischen Worten das Funktionieren ihres Verdauungsapparats schildern. Daher sagt er, als ihn Tascato erneut nach dem Kern seiner Arbeit fragt: »Jeder Schriftsteller ist wie ein Hund, der sein Futter auskotzt und es dann noch einmal auffrisst.«
»Und warum macht er das?«, fragt Tascato mit einem professionellen Lächeln, um nicht zu zeigen, dass ihn diese Äußerung schockiert.
»Aus Gewohnheit«, sagt Deserti. »Aus Faulheit, aus Feigheit. Aus Habgier.«
Olacin und Faruk wirken gar nicht einverstanden: Im Gegenteil, ihre Missbilligung wird deutlicher mit jedem Wort, das die Dolmetscher ihnen ins Ohr flüstern.
»Was müsste ein Schriftsteller denn tun?«, fragt Tascato. »Um die ausgespiene Mahlzeit nicht wieder
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