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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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aufzuessen?«
    »Sich erschießen?«, antwortet Deserti mit Blick auf Zattola, der auf seinem Platz in der ersten Reihe zusammengesunken ist. »Oder wenigstens rausgehen, um die Welt außerhalb seines stickigen Zimmers zu erkunden? Aufhören, sich selbst als jemanden darzustellen, der auf Kommando Wunder vollbringt?«
    Olacin und Faruk sind eindeutig empört, nachdem sie die Übersetzung gehört haben: Sie bewegen die Lippen, schütteln den Kopf, heben die Hand. Auch das Publikum scheint seine Äußerungen überhaupt nicht zu billigen, nach den Gesichtern in der ersten Reihe zu urteilen. Die Leute sind hergekommen, um sich von der multikulturellen Offenheit und Tiefsinnigkeit der internationalen Literatur anregen und beeindrucken zu lassen, gewiss nicht, um Schriftsteller in einer Schaffenskrise über Erbrochenes reden zu hören.
    Tascato spürt, dass die Zustimmung abnimmt; sofort stellt er Faruk die gleiche Frage, und dieser betont die lebenswichtige Bedeutung des Erzählers in der heutigen, von Massenkommunikationsmitteln und deren minderwertigen Botschaften beherrschten Gesellschaft. Das Publikum ist einverstanden: Die Erleichterung im Saal ist groß, es gibt Beifall, als Faruk über die Funktion der Literatur als unersetzliches kritisches Gewissen spricht. Gleich anschließend ergreift Olacin das Wort, um noch eins draufzusetzen: ein großer Roman könne das Bewusstsein des Lesers verändern. Zum Beweis zitiert er den Fall eines seiner Bücher, das ihm zufolge angeblich sogar entscheidend dazu beigetragen habe, das alte Regime in seinem Land zu Fall zu bringen. Das Publikum klatscht erneut, seine Überheblichkeit wird ihm verziehen, da er aus einem der entlegensten Randgebiete der Welt stammt.
    Als dieser Teil endlich abgeschlossen ist, verkündet Tascato, dass sich nun auch das Publikum an der Diskussion beteiligen könne. Im Saal gehen die Lichter an, das bisschen Atmosphäre, das die Bühne umgab, verfliegt, man sieht nun die Gesichter der Leute auch hinter der ersten Reihe, hinter Zattola, der sich gerade träge auf seinem Platz aufrichtet. Ein Mädchen in Museumswächter-Uniform geht mit einem schnurlosen Mikrophon in Form einer Eistüte durch den Gang zwischen den Sitzen und schaut, ob jemand die Hand hebt, um etwas zu sagen. Deserti folgt ihr mit dem Blick, denkt, dass er jedes mühsame Detail dieses Rituals voraussagen kann, und entdeckt auf einmal Clare Moletto im Publikum.
    Sie sitzt in der Mitte des von ihm aus gesehen rechten Teils, ihr Gesicht sticht zwischen den Dutzenden von unbekannten Gesichtern heraus: Sie trägt die Locken zusammengebunden, ist aufmerksam, gespannt. Sie schaut nicht zu ihm her, sondern dreht sich nach links zu den ersten Reihen, wo ein grauhaariger Mann aufgestanden ist, das Mikrophon in der Hand, das ihm das Mädchen soeben gereicht hat.
    Nur eine Sekunde oder zwei verfolgt Deserti diese Bewegungen, doch als er sich wieder nach Clare Moletto umblickt, findet er sie nicht mehr. Er versucht, sich an die genaue Stelle zu erinnern, wo sie saß, sucht mit dem Blick Reihe für Reihe den ganzen Saal ab, aber nichts: Sie bleibt verschwunden.
    Der Grauhaarige mit dem Mikro ergeht sich minutenlang in geschraubten Betrachtungen, die Olacins Werk gelten sollen, aber bisher auf keine Frage hindeuten. Tascato denkt nicht im Traum daran, ihn zu unterbrechen oder ihm wenigstens ein Zeichen zu machen, sich kürzer zu fassen; das Publikum wirkt wie hypnotisiert, ohne Zeitgefühl und auch ohne die natürliche menschliche Ungeduld. Es ist eine Art abschließende Feier der Leere, bei der die Wörter anmaßend die Vorherrschaft über ihren Inhalt einfordern.
    Deserti hält es kaum noch aus: Er sucht weiter mit dem Blick den Saal ab, rutscht auf dem zu weichen Sessel herum, möchte nur noch eins, aufstehen und gehen, um Clare Moletto zu suchen, solange noch eine Möglichkeit besteht, sie zu finden.
    Wie durch ein Wunder hört der Grauhaarige zu sprechen auf und setzt sich, doch Olacin antwortet sofort mit einem Schwall verzweigter Sätze und unterbricht seinen Singsang nur, um dem Dolmetscher zu erlauben, mit verbissener Genauigkeit zu übersetzen. Desertis Beine bewegen sich von allein, er schafft es nicht mehr, sitzen zu bleiben und so zu tun, als hörte er zu. Er springt auf, das Senderkästchen fällt ihm aus der Tasche, hängt am Kabel des kleinen Mikros, das an seinem Revers steckt. Olacin verstummt; der akustische Raum ist nur vom Summen der alten Klimaanlage erfüllt. Nach den allgemeinen

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