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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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körperliche Aversion, gemischt mit Bedauern und Zuneigung. Dennoch, scheint ihr, ist sie im Grunde dieselbe geblieben, mit demselben Charakter, denselben Qualitäten und Fehlern. Sie fragt sich, durch welche Prozesse sich die Wahrnehmung so einschneidend verändern kann: das ständige Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit, die Verblendung und die Bewusstwerdung, die Höhenflüge und die abrupten Landungen, die chemischen Veränderungen, die Verschiebung von Bedürfnissen und Wünschen.
    Stefano hingegen scheint weit entfernt von seiner lange kultivierten Unentschlossenheit: Blick und Miene sind die eines religiösen Fanatikers, der, wenn er auch gut gekleidet und gepflegt auftritt, voll von seiner Mission überzeugt ist. »Meine wunderbare Telefonistin!« Er fasst sie an beiden Handgelenken, zieht sie an sich, presst seine Lippen auf ihre.
    Sie wendet den Kopf ab, lächelt, versucht sich auf freundliche Weise zu befreien: »Wie kommt es, dass du heute so früh bei der Arbeit Schluss gemacht hast?«
    »Weil ich einen Termin hatte, den man nicht verschieben kann.« Stefano lässt ihr eines Handgelenk los, hält aber das andere weiter fest: Er lässt nicht locker.
    »Was für einen Termin?« Sie schaut einer Kollegin nach, die auf dem Fahrrad davonflitzt, den kleinen Rucksack geschultert, allein, frei.
    »Die Möbel für die neue Wohnung!«, sagt Stefano. »Hast du das schon vergessen?«
    »Ah.« Die Idee kommt ihr unglaublich merkwürdig vor.
    »Ich wollte dir ein Geschäft zeigen. Es ist nur fünf Minuten von hier.« Er zieht sie schon an einem Arm vorwärts.
    »Jetzt gleich?« Ihr gehen ganz andere Dinge durch den Kopf und den Körper: Sie möchte nach Hause, die Kleider ausziehen, duschen, sich in ihrem Zimmerchen aufs Bett fallen lassen und darüber nachdenken, was in ihr vorgeht.
    »Ja natürlich!«, drängt Stefano. »In ein paar Tagen macht hier alles zu, und dann läuft bis September nichts mehr. Bevor wir einziehen, muss zwar noch einiges an der Wohnung gemacht werden und so weiter, aber wenn du bedenkst, wie lange die Lieferfristen sind, sind wir schon ziemlich spät dran.«
    Sie lässt sich durch mehrere Straßen der Innenstadt und über eine Piazza schieben und ziehen, in dem schwülen, noch hellen Abend voller Bewegung, Lärm, Autos, Mopeds, Bussen und Leuten, die braun sind von Wochenenden am Meer und vorgezogenem Urlaub, von selbstbräunenden Lotionen und Cremes und Bräunungskapseln. Sie überlegt, auf welche Art sie Stefanos besorgniserregendem Plan entkommen könnte, doch ihr fällt nichts Akzeptables ein. Sie sieht es schon halb vor sich, wie sie sich von Stefano losreißt und im Gedränge davonrennt, so schnell sie kann; aber es kommt ihr ungerecht und grausam vor. Sie versucht, die Bilder zu verscheuchen, ruhig zu bleiben, nach vorn zu blicken, Stefano zuzuhören, der gerade von den letzten Entwicklungen der Beziehungen zu seinen Vorgesetzten und Kollegen in der Kanzlei erzählt.
    Tatsächlich ist das Möbelgeschäft kaum mehr als zehn Minuten von der Great Assistance entfernt, hat große Schaufenster unter den Arkaden eines hässlichen Gebäudes aus den sechziger Jahren an der Ecke zum inneren Ring. Offenbar war Stefano schon mal dort, denn der überkorrekt gekleidete Besitzer oder Geschäftsführer winkt einer Verkäuferin ab und tritt selbst auf ihn zu, sagt »Avvocato Panbianco, guten Abend«, schüttelt ihm die Hand, erkundigt sich nach seiner Mutter. Die Klimaanlage ist so eingestellt, dass sie das Geschäft in einen Kühlraum verwandelt; der Gegensatz zu der brütenden Hitze draußen verursacht Magenkrämpfe.
    Stefano macht eine Handbewegung: »Darf ich vorstellen, Chiara Moletto, meine Verlobte.«
    Clare streckt mit wachsendem Unbehagen die Hand aus.
    »Sehr erfreut«, sagt der Besitzer oder Geschäftsführer. »Sie ziehen in eine neue Wohnung?«
    »Ja«, sagt Stefano.
    »Die Frau Professor hat mir alles erklärt«, sagt der Besitzer oder Geschäftsführer.
    Clare sieht Stefano an: dass der Besuch offenbar von der gesamten Familie Panbianco arrangiert wurde, macht sie noch verlegener.
    Stefano nickt: »Wir brauchen sozusagen alles.«
    »Ausgezeichnet.« Sichtlich angeregt führt der Besitzer oder Geschäftsführer sie in den großen Ausstellungsraum.
    »Vielleicht schauen wir uns erst einmal allein ein bisschen um, danke«, sagt Stefano in seinem untadeligen Ton. Er wirft Clare einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob er ihre Wünsche richtig erraten hat.
    Sie nickt, fühlt sich aber in

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