Sie und Er
genau, warum, doch ist er ziemlich sicher, dass das, was ihn interessiert, keineswegs in den zusammengeknüllten Seiten im Papierkorb ist, sondern draußen, in Bewegung und im Begriff, endgültig aus seinem Aktionsradius zu verschwinden.
Ohne nachzudenken greift er zum Telefon, wählt Clare Molettos Nummer.
Nach fünfmaligem Klingeln, als er schon auflegen will, antwortet sie. »Guten Tag«, sagt sie in ihrem melodischen Singsang mit leicht fragender Stimme.
»Wie geht’s?« Er findet keinen richtigen Ton, weil es gar nichts Gefestigtes zwischen ihnen gibt: nur gefühlte und nicht ausgesprochene, geahnte, vergessene, vielleicht schon verlorene Dinge.
»Gut, und dir?«, antwortet sie nach einer Pause. Im Hintergrund hört man andere Stimmen, das Klingeln von Telefonen auf verschiedenen Frequenzen.
»Ich habe dich im Theater gesehen«, sagt er. »Vorgestern Abend.«
»Ach ja?« Sie macht keine Anstalten zu erklären, warum sie dort war oder warum sie fortgelaufen ist.
»Dann warst du plötzlich weg«, sagt er. »Verschwunden.« Sofort bereut er, dass er so dumm war, Fakten zu beschreiben, die beiden Gesprächspartnern bekannt sind.
»Ich hatte zu tun.« So wie jetzt auch, nach den Geräuschen zu urteilen.
»Das habe ich mir gedacht«, sagt er. »Oder fandest du das Ganze so abstoßend?«
»Aber nein.« Sie lacht.
»Jedenfalls bin ich auf die Straße gelaufen, um dich zu suchen«, sagt er. »Aber du warst nicht mehr da.« Ihr das zu erzählen ist noch peinlicher für ihn, denkt er, als wenn er sie dort vor dem Theater angerufen hätte, aber er kann nicht anders: Es ist so.
»Wirklich?« Sie klingt erstaunt, ungläubig.
Er hofft auf eine Eingebung, die sich rasch und spielerisch in eindrucksvolle Worte kleiden lässt; aber ihm fällt nichts ein, es ist wie in einem Traum, in dem er rennen müsste und sich nicht bewegen kann. »Was machst du am nächsten Wochenende?«
»Ich arbeite«, sagt sie, abwehrend, angespannt.
»Dann wirst du doch unter der Woche mal frei haben?« Bloß keine Pause machen, abwarten, überlegen, aufschieben ist nicht erlaubt, das weiß er; er hat es eilig, und er hat Angst.
»Mittwoch und Donnerstag«, antwortet sie. »Warum?«
»Fährst du Mittwoch mit mir nach Frankreich?« Er schafft es nicht, vorher das Terrain zu sondieren. Tatsache ist, dass ihm nur lächerlich wenige Sätze einfallen und die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, schon fast um ist.
Plötzlich hört man in der Leitung ein Gewirr von Fragen und Antworten anderer Leute, es geht wahrscheinlich um Motorschäden, Unfälle, Krankheiten, ruinierte Urlaubsreisen. »Du meinst morgen?«, sagt sie zuletzt.
»Mhm«, macht er. »Wir kommen Donnerstagnacht zurück.«
»Das geht nicht.« Wieder eine kurze Pause. »Am Donnerstag bin ich zu einem Abendessen eingeladen.«
»Wir kommen rechtzeitig zu deinem Essen zurück«, sagt er: Etwas anderes fällt ihm nicht ein. Er findet immer noch keine besseren Worte, und das macht ihn so rasend, dass er mit dem Kopf gegen die Wand rennen möchte. Er fragt sich, ob diese plötzliche Unfähigkeit, sich auszudrücken, mit der Hitze zu tun hat, damit, dass er all diese nutzlosen Sachen gelesen hat, die er in den letzten Monaten geschrieben hat, oder mit der unerklärlichen Angst, die er empfindet.
»Das geht nicht«, sagt sie noch einmal. Sie schwankt offenbar zwischen der Möglichkeit, das Gespräch freundlich zu beenden oder schroff aufzulegen.
»Aha.« Er kann sich nicht beruhigen, dass ihm ausgerechnet jetzt die Worte fehlen, obwohl er doch schon ein Leben lang unablässig an der Vervollkommnung seiner verbalen Ausdrucksfähigkeit feilt; er könnte sich ohrfeigen vor Wut.
»Wohin in Frankreich?«, fragt sie.
»In den Süden.« Dass sie trotz allem nachfragt, verwirrt ihn.
Wieder hört man am anderen Ende die Stimmen und Geräusche des Call-Centers.
»Man braucht nur ein paar Stunden.« Ihm ist durchaus bewusst, dass es gar keinen Sinn hat, logistische Aspekte ins Feld zu führen, ohne wenigstens einen guten Grund für die Reise zu liefern.
»Ich schaffe es nicht«, sagt Clare Moletto; sie scheint Schluss machen zu wollen. Wer weiß, was sie zu erledigen hat, wie viele Anfragen dringend ihre Aufmerksamkeit fordern.
Voller Verzweiflung versucht er, seine letzten Reserven zu mobilisieren: »Es ist wirklich sehr schön dort.« Natürlich genügt das nicht: Vor Zorn tritt er nach einem Stuhl, der umfällt, und tut sich am nackten Fuß weh.
»Was ist los?«, fragt
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