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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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dicken Mauern, hohen Decken; bestimmt hat es einmal dem Bürgermeister des Ortes oder einer anderen bedeutenden Persönlichkeit gehört, denkt Clare.
    Im zweiten Stock angekommen, geht Nicole vor und öffnet eine Tür: Ein großes Zimmer tut sich auf, ganz weiß, abgesehen von dem Fußboden aus sechseckigen dunkelroten Terrakottafliesen. Die Restaurierung ist amateurhaft, was den Raum freundlicher macht: wenige Möbel, weiß gestrichen wie die Konsolen und Wandschränke, ein runder Tisch mit vier Stühlen, ein breites Bett, dessen Kopfteil in eine Mauernische geschoben ist, wo vielleicht einmal ein Bücherregal oder ein Schrank war, links ein neu eingebautes Bad, weiter vorn eine Kochecke. Drei große Fenster gehen auf einen Garten im Innenhof hinaus: Man sieht eine große Platane, deren heller Stamm von unten angestrahlt ist.
    »Gut.« Nicole mustert die beiden leicht fragend.
    »Gut.« Daniel Deserti öffnet einen Wandschrank, schaut hinein.
    »Wir sehen uns morgen beim Frühstück«, sagt Nicole, bleibt aber weiter mitten im Zimmer stehen. »Ja«, sagt er.
    »Frühstück gibt es von acht bis zehn«, sagt Nicole.
    »Perfekt.« Er betrachtet das Regal über dem Spülstein in der Kochecke.
    »Im Kühlschrank müsste noch eine Flasche Rose liegen, trinkt sie ruhig«, sagt Nicole.
    »Danke«, antwortet er.
    »Gute Nacht.« Nicole rührt sich immer noch nicht vom Fleck, groß, dünn und hell, mit ihren kurzen, zu Berge stehenden Haaren.
    »Gute Nacht, Nicolina bella.« Er geht zu ihr, umarmt sie; wieder drücken sie sich zu heftig, zu lang.
    Clare schaut aus einem Fenster, kann aber nicht umhin, die Szene zu beobachten, fühlt, wie ihr Blut in Wallung gerät.
    »Gute Nacht?«, sagt Nicole, zu ihr gewandt, blickt sie aus ein paar Metern Entfernung an.
    »Nacht«, erwidert sie. Ihre Gesichtsmuskeln sind angespannt, sie schafft es kaum zu lächeln.
    Endlich wendet Nicole sich zum Gehen, schließt die Tür hinter sich.
    Daniel Deserti zeigt auf das Zimmer: »Gefällt es dir?«
    »Schön«, sagt sie, ohne die geringste Überzeugung in der Stimme. Sie findet es schrecklich, dass Nicoles Erscheinen sie so gestört hat und dass sie jetzt darauf wartet, dass Daniel ihr sein Verhältnis zu dieser Frau erklärt, was ihm aber gar nicht in den Sinn kommt. Außerdem denkt sie ununterbrochen an ihr Handy mit Stefanos Nachricht oder seinem nicht entgegengenommenen Anruf; ihr ist, als bestehe ein übertriebenes Missverhältnis zwischen dem schon begangenen Unrecht und den schon enttäuschten Erwartungen an diese Reise.
    Er öffnet den Kühlschrank, holt die Flasche Rose heraus, von der Nicole gesprochen hatte: »Trinken wir ein Glas?«
    »Ja, ich komme gleich.« Sie verschwindet im Bad, das schmal und lang ist, mit einem Fenster, das auf einen anderen Winkel des Gartens hinausgeht, wo andere Platanen wachsen. Sie holt das Handy aus der Tasche: Es zeigt zwei Anrufe von Stefano an und zwei Nachrichten. Eine davon stammt von Alberto: am meisten kotzt mich an dass du alles kaputt gemacht hast für so eine scheißgeschichte die schon nach knapp j Jahren aus ist kompliment cool echt. Sie fühlt Bitterkeit in sich hochkommen, drückt sofort die Löschtaste, als könnte sie damit die Worte nicht nur aus dem Speicher des Handys verschwinden lassen, sondern auch aus ihrem Gedächtnis. Die zweite Nachricht ist von Stefano: Ich wollte nur wissen, ob die Reise ok war. Du fehlst mir.
    Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, geht in die Hocke. Schuldgefühle und Bedauern schnüren ihr die Luft ab. Und doch findet sie auch, dass sie viel zu wenig auf ihre innere Stimme hört, wenn sie Bilanz zieht. Es ist doch zum Beispiel absurd, dass sie Albertos falsche, erpresserische Anklagen höher bewertet als ihren eigenen Schmerz über seinen Seitensprung und über das ganze chronische Unbehagen, das dem vorausging. Und dass Stefano ihr ausgerechnet jetzt zum ersten Mal sagt, sie fehle ihm, ist einfach gemein, denkt sie; vielleicht ein Zufall oder das Gegenteil von Zufall. Auf dem Boden des Badezimmers sitzend, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, versucht sie, wieder zu Atem zu kommen. Sie würde Stefano gern kurz anrufen, weiß aber nicht, wie, mit Daniel Deserti auf der anderen Seite der dünnen Tür; wenigstens eine passende Nachricht wird ihr hoffentlich einfallen. Sie tippt: Gut angekommen, du fehlst mir auch, was jedenfalls teilweise stimmt. Zu scheinheilig, findet sie dann, löscht den Text, schreibt: Reise sehr gut, todmüde. Gute Nacht, iooo

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