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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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sich: »Ahornsirup gibt es leider nicht.«
    »Ach, das macht nichts.« Sie fragt sich: Warum diese plötzliche Beflissenheit, worauf will er hinaus?
    »Probier mal!«, drängt er. »Sag mir, ob sie dir schmecken!« Mit der Gabel spießt er ein Stück von seinem Pancake auf, schiebt es in den Mund, kaut genüsslich, dreht sich um und lächelt dem Mädchen mit dem runden Gesicht zu, das am Nebentisch sitzt.
    Lustlos zerteilt auch Clare ihren Pancake, verblüfft, wie Deserti von einer Laune zur anderen wechselt, von einem Verhalten zum anderen. Vielleicht ist er nicht so pathologisch sprunghaft wie Alberto, aber dafür scheinen seine Schwankungen noch unvorhersehbarer zu sein und auch die Auslöser dafür noch unklarer. Welch ein Gegensatz zu Stefanos Stabilität, die sie in der ersten Zeit so beruhigend fand und die ihr jetzt so langweilig vorkommt. Jedes Mal, wenn sie versucht, sich ein ganzes Leben mit ihm auszumalen, sieht sie es schnurgerade und banal vor sich wie eine Autobahn. Als sie sich ein Leben mit Alberto vorstellte, glich es mehr einer klapprigen Achterbahn. Mit Daniel Deserti hat sie sich nie mehr als diese zwei Tage vorzustellen versucht, doch es war ihr nicht gelungen. Dennoch hat er etwas an sich, was ihr Verlangen nach Überraschungen weiterhin heftig anstachelt, auch jetzt, jedes Mal, wenn sie ihn anschaut, gegen ihren Willen. Sie fragt sich, ob es ein Zeichen von Unreife ist, eine offene Bedrohung ihres mühsam erworbenen inneren Gleichgewichts oder was.
    »Isst du nicht?« Er deutet auf den goldbraunen Pancake, der nach und nach den Honig aufsaugt.
    »Doch, doch.« Sie versucht gerade, sich mit den Distanzierungstechniken, die ihr Vater ihr beigebracht hat, mental einen Freiraum zu schaffen, aber es ist nicht leicht in diesem schattenlosen Licht, mit den tausend Zweifeln, die sie plagen, und den nächtlichen Gefühlen, die immer wieder auftauchen, sobald er ein paar Zentimeter näher kommt.
    »Und?« Er hat wieder diesen Ausdruck unschuldiger Neugier: erwartungsvoll, in der Schwebe.
    »Gut«, sagt sie.
    »Wirklich?«, fragt er. »Überzeugt er dich?«
    »Ja, doch.« Tatsächlich hat der Pancake die richtige weiche und elastische Konsistenz, denkt sie.
    »Das habe ich in den Catskills gelernt, in New York State«, sagt er. »In dem kleinen Restaurant eines Freundes von mir, wo ich eine Weile gearbeitet habe.«
    »Bravo.« Aus irgendeinem Grund stört sie die Vorstellung von ihm in dem Staat, wo sie geboren ist, es kommt ihr vor wie eine Besetzung ihres Reviers.
    Er deutet in die Runde: »Die Energie hier ist fast durchweg positiv«, sagt er. »Das spürt man, oder?«
    Sie nickt stumm. Im Kopf wälzt sie weiter einige Sätze hin und her, um ihm zu sagen, dass sie sofort nach Mailand zurückmuss, weiß aber nicht, wie sie sie in gesprochene Worte umsetzen soll: in welcher Stimmlage, mit welchem Blick, wann? Nicole macht ihr ein Zeichen aus der Küche, ob ermutigend, hämisch oder herausfordernd, ist nicht klar. Sie hebt auf ebenso zweideutige Weise die Hand.
    Daniel Deserti isst seinen Pancake auf und tunkt dann sofort ein Croissant in die Kaffeetasse, lutscht es halb aus und beißt hinein, kippt Kaffee hinterher, schiebt sich eine Feige in den Mund, ohne sie zu schälen. Seine Bewegungen haben die gleiche männliche Sinnlichkeit wie am Anfang der Nacht, als sie zusammen im Bett waren: begehrlich, aber nicht ungehörig, mit einer natürlichen Lebensfreude, die sie von weitem zu erkennen meint, als wäre es ein Teil ihrer selbst.
    Sie isst ihren Pancake in kleinen Bissen. Wahrscheinlich müsste sie lachen, wenn sie sich jetzt von außen sähe, so krampfhaft beherrscht. Ab und zu nippt sie an ihrer Kaffeetasse, registriert nebenbei seine Bewegungen, tut so, als konzentriere sie sich ganz auf ihr Frühstück.
    Als sie fertig ist, springt er auf, sammelt die leeren Teller ein: »Hast du Lust, einen Spaziergang durchs Dorf zu machen?«
    Jetzt wäre der richtige Augenblick, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht hierbleiben kann, sondern sofort nach Mailand zurückmuss, denkt sie; wenn er sie zum Bahnhof bringen will, gut, andernfalls schafft sie es auch allein. Doch sie lässt den Augenblick verstreichen: sieht zu, wie er vergeht.
    »Es gibt einen wunderschönen Markt«, sagt er, während er auf die Sommerküche zugeht. »Wir treffen uns vor der Haustür, in zehn Minuten.«
    Sie nickt, obwohl sie sich ärgert über sein Verhalten und ihre Unfähigkeit, darauf zu reagieren, überwältigt von der Sonne und

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