Sie und Er
denken, aber dennoch entsinnt sie sich, wie unattraktiv sie Luigi fand, bevor er ihr flächendeckend den Hof machte; wie wenig Vertrauen ihr Alberto einflößte, bevor er sie mit dem wunderbaren Versprechen eines leidenschaftlicheren Lebens köderte, wie wenig Sympathie sie instinktiv für Stefanos Art empfand, bevor er ihr die Vorstellung vermittelte, er könne ihr endlich erklären, nach welchen Regeln die Welt funktioniert.
»Es ist einer unserer Urinstinkte«, sagt er. »Auch das geht auf die Zeit der Höhlenmenschen zurück. Du musst im Bruchteil einer Sekunde erkennen können, ob der, der vor dir steht, dir das Leben retten oder es in Gefahr bringen könnte. Wenn du dich irrst, bist du tot. Von einem Tiger mit Säbelzähnen gefressen, in einen Abgrund gestürzt, verhungert oder einfach zu einem elenden Dasein verdammt.«
»Danach hat es allerdings mehrere Jahrtausende der Evolution gegeben.« Sie hat keine Lust mehr, sich wieder seine Theorien anzuhören; dass auch diese durchaus etwas Wahres zu enthalten scheint, macht sie wütend.
»Aber der Grundprozess ist gleich geblieben«, sagt er. »Wir machen diese mentale, ultradetaillierte Momentaufnahme mit allen relevanten Daten.«
»Und dann vergessen wir sie wieder.« So ist es doch, und wenn sie es genau bedenkt, trifft es auch auf die jetzige Situation zu.
»Gewöhnlich nicht«, sagt er.
»Warum?« Sie betrachtet zwei leere Schaufenster mit einem Schild »Pächter oder Käufer gesucht«.
»Weil wir nach Jahrtausenden der Evolution alles so stark rationalisieren, dass wir nicht mehr sehen, was wir nicht sehen wollen«, sagt er.
»Obwohl wir wissen, dass es vorhanden ist?« Es macht ihr nicht mehr viel aus, ihr Interesse zu zeigen, weil das Thema ihm bestimmt nicht zum Vorteil gereicht.
»Wir bemühen uns unermüdlich darum, alles zu entschuldigen und zu beschönigen«, sagt er.
»Warum?«, wiederholt sie; so leicht soll er nicht davonkommen.
»Um nicht zuzugeben, dass wir uns geirrt haben«, sagt er. »Darum versuchen wir ständig, alles zu verstehen, zu erklären, herunterzuspielen und abzuwiegeln, bis wir überzeugt sind, dass alle negativen Details auf unserer mentalen Fotografie falsche Eindrücke sind, oder jedenfalls viel unerheblicher als die positiven.«
»Aber früher oder später treten sie doch zutage«, sagt sie zornig. »Alles nur eine Frage der Zeit.«
»Da führt kein Weg dran vorbei«, sagt er. »Nach und nach treten sie zutage, oder auch alle auf einmal.«
»Tja.« Sie denkt an die Situation zwischen ihnen beiden gestern Abend und auch jetzt gerade.
Oben an der Ecke angekommen, halten sie sich links, und die Gasse wird zur Hauptstraße des Ortes, mit Platanen zu beiden Seiten und Tischen vor Cafés und Restaurants, einem Obstladen und einer Bäckerei. Die Gebäude sind mehrstöckig, spiegeln eine Vergangenheit als bedeutendes Zentrum im Herzen einer landwirtschaftlichen Gegend und bilden den passenden Rahmen für den Prachtbau, in dem sie übernachtet haben. Dennoch wird alles gemildert durch die Helle des Lichts, einige heruntergekommene Fassaden, das Grün des Laubs, die gelb, blau und rot gemusterten Tischdecken, die Kleider der Touristen, die erhitzt und geblendet die Gehsteige entlangspazieren.
Er stürmt auf eine grauhaarige Frau vor einem kleinen Restaurant zu, umarmt sie, spricht und lacht mit ihr, zeigt auf Clare, die vor Verlegenheit vom Gehsteig auf die Straße tritt, ohne sich umzuschauen, und beinahe von einem Motorrad überfahren wird. Nach ein paar Minuten holt er sie ein, schiebt sie vorwärts, berührt sie am Arm, um sie auf einen Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart an einem Cafetischchen aufmerksam zu machen, auf einen Hund mit struppigem Fell neben einer Bank, die Fotos und Schilder in den Schaufenstern von zwei Maklerbüros, die klassizistischen Säulen des Rathauses, ein majestätisches Tor, einen Topf Geranien vor einem Fenster. »Schön, nicht wahr?« Er sieht sie fragend an, doch gleich darauf eilt er schon in eine Buch- und Schreibwarenhandlung, um den Besitzer zu begrüßen.
Es fällt ihr schwer, diesen Daniel Deserti mit dem Verletzten in Einklang zu bringen, den sie im Regen aus dem Jaguar gezogen hat, oder mit dem Wanderer, der in San Minimo überraschend vor ihrer Türe stand, oder mit dem ihr sehr nahen und gleich danach sehr fernen Mann, der sie in den schweißnassen Laken umarmt und mit dem sie in der brütenden Hitze der Nacht über die Unlogik der Liebe gesprochen hat. Sie geht neben ihm, fällt
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