Sie und Er
abgelenkt durch den Geschmack des Frühstücks. Sie steht auf, nimmt die Bougainvilleablüten, die er ihr geschenkt hat, erwidert erneut den Gruß der anderen Gäste, durchquert das Erdgeschoss des Gebäudes, geht in den oberen Stock hinauf. Sie putzt sich die Zähne, hinund hergerissen zwischen widersprüchlichen Impulsen: ihre Sachen in den kleinen Rucksack stopfen und abhauen, Stefano anrufen, dass sie beschlossen hat, früher zurückzukommen als vorgesehen; auf eigene Faust ins Dorf gehen und bis abends wegbleiben, ohne dass Daniel Deserti sie finden kann; sich ausziehen, ins Bett legen und warten, dass er heraufkommt, um nach ihr zu sehen. Sie wandert in dem großen weißen Zimmer umher in der Erwartung, dass ein Impuls die Oberhand gewinnt, aber vergeblich.
Zuletzt geht sie die Treppe hinunter, tritt auf die schmale Gasse hinaus. Doch er steht keineswegs wartend vor der Tür, wie abgemacht. Er steht am Ende der Gasse und unterhält sich mit einer alten Dame, die ein Hündchen an der Leine führt; er redet weiter, auch als Clare dazukommt.
Um nicht dumm danebenzustehen, überquert sie die Straße, betrachtet das Schaufenster des Antiquitätenladens, den sie am Vorabend bei ihrer Ankunft bemerkt hatte. Alte Möbel stehen darin, alte Gemälde, alte Vogelkäfige, alte Kinderwiegen, alte Spiegel. In der Straße herrscht Auto- und Fußgängerverkehr, aber nicht viel für ein Dorf in Südfrankreich Ende Juli; alles wirkt verlangsamt und gedehnt, und der Tag wird immer heißer.
Schließlich verabschiedet Daniel Deserti sich von der alten Dame, kommt zu ihr, ohne ein Wort der Entschuldigung: »Hier entlang.« Er legt ihr eine Hand auf die Hüfte, um sie vorwärtszuschieben. Sie möchte eigentlich nicht angefasst oder gedrängt werden; rasch geht sie das leicht ansteigende Trottoir entlang, vorbei an einem Geschäft, das Strohhüte und Stoffhüte und Seidentücher in allen Farben verkauft.
»Bist du woanders?«, fragt er knapp hinter ihr.
»Nein«, sagt sie in abweisendem Ton und beschleunigt ihren Schritt noch, obwohl der Weg steil ist und das Licht blendet.
Er geht ebenfalls schneller, um an ihrer Seite zu bleiben: »Findest du es nicht erstaunlich, wie man schon im ersten Augenblick der ersten Begegnung alle wichtigen Informationen über den anderen Menschen sammelt?«
Sie dreht sich nicht zu ihm um, wie er vermutlich erwartet hatte; sie antwortet nicht.
»Positive und negative«, sagt er. »Sie sind alle da, wie auf einem überdeutlichen Foto. Alle Merkmale, die dir vielleicht gefallen, und alle, die dir vielleicht nicht gefallen.«
Sie schweigt weiter. Ihr ist überhaupt nicht danach, das Gespräch von letzter Nacht fortzusetzen; sie möchte höchstens auslöschen, was sie sich gesagt haben, auslöschen, was vorher stattgefunden hat, samt den Empfindungen.
»Wirklich«, sagt er. »Denk mal an den ersten Augenblick, in dem du die wichtigen Männer deines Lebens gesehen hast.«
Sie denkt, dass dieser Konversationsversuch so fehl am Platz ist, dass er schon fast wieder rührend wirkt: Es gibt absolut keinen Grund, um mit unbarmherziger analytischer Offenheit über ihr Leben zu reden, Schluss, aus. Sie mustert die Hausmauern, betrachtet den Rand des Gehsteigs gegenüber.
Er redet weiter, als sei ihm nicht bewusst, wie sehr sich die Dinge geändert haben, oder als sei es ihm bewusst, aber egal. »Sag mir, ob die Egozentrik, die Arroganz, die Oberflächlichkeit, die Schwäche, die Öde, die grundsätzliche Unzuverlässigkeit nicht sofort offensichtlich waren, genauso wie die Eigenschaften, die dich angezogen haben.«
»Kann sein«, sagt sie wider Willen. Sie muss sich beherrschen, um nicht hinzuzufügen, dass die Egozentrik und die Arroganz und die grundsätzliche Unzuverlässigkeit zweifellos sehr offensichtlich waren, als sie ihn das erste Mal gesehen hat.
»Sei ehrlich«, sagt er. »Nicht schummeln.«
»Ich schummle nicht.« Ihr Tonfall ist so schroff wie möglich. »Ich habe gesagt: Kann sein.« Doch wenn sie daran denkt, wie sie ihn in dem zerbeulten Jaguar im strömenden Regen sitzen sah, kommt ihr vor allem die unerklärliche magnetische Anziehung wieder in den Sinn, die sie gespürt hatte: das Gefühl, von seinem Blick, seinen Gesichtszügen, seiner Stimme verschlungen zu werden.
»Denk mal dran, wie du deinen Mann getroffen hast oder deinen Mailänder Anwalt«, drängt er. »Oder diesen Hampelmann von Sänger. Sag mir, ob du nicht alles sofort gesehen hast.«
Daran will sie nun genau nicht
Weitere Kostenlose Bücher