Sie und Er
Boden, die Wände und die Decke strahlen weiterhin Wärme ab, die Uhr unten an dem kleinen in der Ecke hängenden Fernseher zeigt in grünen Leuchtziffern drei Uhr fünfundvierzig.
Er geht zur Kochecke, trinkt aus dem Wasserhahn. In seinem Gehirn und seinem Körper klingen noch die Wörter und Empfindungen des Gesprächs nach, das er vorhin mit ihr im Bett geführt hat, kommen in Wellen. Bei der kleinsten Bewegung schwappen sie in den Magen, in die Leerräume zwischen den Gedanken, über die Haut. Ebenen, die übereinandergleiten, so wie sie und er, bevor sie sich aus der Umarmung befreite, aufsprang und ins Bad rannte, um sich zu übergeben.
Nun lehnt er sich an die Wand, atmet langsam im Dunkeln. Er fühlt eine Unruhe, die er nicht benennen kann, sie ähnelt Orientierungslosigkeit, Kontrollverlust, Sinnentleerung. Ihm ist, als befände er sich auf einem lebensgefährlichen Terrain, ohne Verteidigungswaffen oder angemessene Strategie. Wie konnte das nur geschehen, fragt er sich: aus übergroßer Vorsicht oder aus Mangel an Aufmerksamkeit, aus Impulsivität, Leichtsinn, Verwirrung? Konturlose Bilder gehen ihm durch den Kopf, verlangsamen und beschleunigen seinen Kreislauf, verschieben seinen Herzrhythmus. Mit Clare Moletto hierherzukommen, fragt er sich, war das wieder einer der vielen Fehler, die er machte, obwohl er von vornherein wusste, dass es verkehrt sein würde? Er hat einen ganzen Katalog davon im Kopf, angefangen bei der Zeit, als er drei Jahre alt war: Taten, die nicht mit den Gedanken übereinstimmen, und umgekehrt, verpasste oder verspielte Gelegenheiten, ohne den Verlust, die möglichen Auswirkungen zu bedenken, unsichtbare Gelegenheiten, die sich erst hinterher als das erweisen, was sie hätten sein können, zu spät. Dennoch hat er nie etwas bereut, sich nie zurückgesehnt; immer hat er sich vorgestellt, dass es weiter vorn, in irgendeinem unvorhergesehenen Augenblick, an irgendeinem Ort noch etwas Besseres gebe. Ihm scheint auch nicht, dass ein direktes Verhältnis besteht zwischen der Schwere der Fehler und der Länge der Zeit, die er vorher darüber nachgedacht hat: Die Folgen seiner impulsiven Entscheidungen waren stets ebenso katastrophal wie die der lange überlegten. Ebenso wenig stimmt es, dass seine Fehler auf Aussetzern seiner Vernunft beruhen; im Gegenteil, bei eingehender Prüfung erweisen sich die Gründe dafür als genauso hieb- und stichfest wie die für seine besten Entscheidungen. Vor allem kommt es ihm so vor, als sei das Leben in seiner Gesamtheit hochgradig mangelhaft, als sei der gute Ausgang einer Unternehmung noch mehr vom Zufall abhängig als der schlechte. Schon lange stellt er sich einen Tag ohne Probleme vor wie einen Gang über einen zugefrorenen See, ohne dass das Eis plötzlich kracht und er ins eisige Wasser stürzt. Du kannst so gut aufpassen, wie du willst, wenn du aber die Dicke der Eisschicht nicht prüfen kannst, ist es auch keineswegs dein Verdienst, wenn du nicht einbrichst und ertrinkst.
Die Stechmücken umschwirren ihn weiter, fast schlimmer als im Bett, stechen ihn erneut am Rücken, am Nacken, an den Schläfen, an den Armen. Sie gehören zu der lautlosen Sorte, die diese Gegend bevölkert: Er hört ihr Summen kaum, wedelt mit den Händen, um sie zu verjagen, obwohl er weiß, dass es gar nichts nützt. Wieso hat er bloß gedacht, dass Clare Moletto grundverschieden sein könnte von den anderen Frauen, die er schon kennt? Wieso hat er sie spontan hierher eingeladen? Er fragt sich, welches Geschenk er sich von ihr erwartet, was er durch sie zu entdecken oder zu erfinden gehofft hatte. Auf einmal kommt es ihm unglaublich dumm und arrogant vor, sie auf diese Art aus ihrem Leben gerissen, sie unbegründetem und unbestimmtem Druck ausgesetzt und aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Er überlegt, wie er da herauskommen könnte, ohne noch mehr Schaden anzurichten, ohne bei ihr den dauerhaften Eindruck zu hinterlassen, er sei noch schrecklicher, als er tatsächlich ist. Ihm fällt nichts ein, seine Reserven sind aufgezehrt.
Möglichst geräuschlos kehrt er zum Bett zurück, aber der Fußboden vibriert bei jedem Schritt und die Wände beben. Er setzt sich auf seiner Seite auf den Bettrand, lauscht lange ihrem Atem und den Grillen draußen. Die Haltung kostet ihn Mühe, er spürt die Anspannung in den Nervenbahnen und den Beinmuskeln und schwitzt noch mehr. Vorsichtig streckt er sich auf der schwankenden Matratze aus, zieht das Laken bis über den Kopf, um
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