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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Ahnung zu bestätigen, seinen Wutausbruch auszuhalten, die nötige Schuld auf sich zu nehmen, so weit wie möglich um Verzeihung zu bitten, die Sache nicht allzu schmerzhaft zu Ende zu bringen und sich dann unendlich erleichtert und frei und im Einklang mit sich selbst zu fühlen.
    Stattdessen sagt Stefano in absurd zärtlichem Ton: »Ich wollte nur deine Stimme hören und dir ein Küsschen schicken.«
    »Danke.« Sie ist so verblüfft, dass sie nicht weiß, was sie sonst antworten soll.
    »Wie geht es dir?«, fragt Stefano, als würde er mühelos ein inniges, wer weiß wann, wer weiß wo begonnenes Gespräch wiederaufnehmen.
    »Gut.« Sie kann es nicht glauben, dass er nicht merkt, welch abgrundtiefe Kluft sich zwischen ihnen aufgetan hat, dass er sich nicht dementsprechend verhält.
    »Alles klar, du kannst jetzt nicht reden«, sagt Stefano. »In ein paar Stunden sehen wir uns ja sowieso am Zug.«
    »Welcher Zug?«, sagt sie.
    »Wie, welcher Zug?«, sagt Stefano.
    »Wovon sprichst du?« In diesem Augenblick gibt es in ihrem Gedächtnis keine Spur von Zügen.
    »Du erinnerst dich doch, dass wir heute Abend bei Marina zum Essen eingeladen sind, oder?« Endlich schwingt ein Hauch von Beunruhigung in seiner Stimme mit. »Um halb neun.«
    Sie antwortet nicht, rührt sich nicht; Marina, halb neun, heute Abend sind für sie völlig abstrakte Größen, die sie nicht begreifen kann. Sie hofft, dass Stefano gleich einen seiner plötzlichen Wutanfälle kriegt, dass er sie mit Beleidigungen und Anklagen überschüttet, ihr alles vorwirft, was er an ihr nicht mag und nie gemocht hat, und nacheinander alle fundamentalen Charakterunterschiede zwischen ihnen aufzählt, derentwegen sie grundsätzlich nicht zusammenpassen; dass er sie anschreit, ihre Beziehung sei zu Ende, er sehe keinen Grund mehr dafür, sie am Bahnhof abzuholen oder sie wie jetzt gerade anzurufen oder ihr unnötige sms zu schicken.
    Doch Stefano ist schon wieder zu seiner neuerworbenen, geradezu krankhaft verständnisvollen Haltung zurückgekehrt. Im geduldigsten Ton der Welt sagt er: »Mäuschen, du musst den Eurostar nehmen, der um fünfzehn Uhr fünfzehn in Ancona abfährt, damit bist du um neunzehn Uhr in Mailand.«
    »Ja?«, sagt sie, verzweifelt über seinen Tonfall, verzweifelt, dass sie keinen Vorwand findet.
    »Nicht den um fünfzehn Uhr, denk daran«, sagt Stefano. »Den um fünfzehn Uhr fünfzehn.«
    »Fünfzehn Uhr fünfzehn«, wiederholt sie, fasziniert von diesen Zahlen, während ihr Gedanken und Empfindungen ganz anderer Herkunft und Bestimmung durch den Kopf rasen wie zu Tode erschrockene Gazellen durch die Savanne.
    »Wo bist du?«, fragt Stefano. »Noch bei deiner Tante?«
    »Nein.« Einen Augenblick lang denkt sie an einen imaginären Ort oder einen Grund, den sie ihm nennen könnte, aber ihr wird bewusst, dass sie einfach keine Lügen mehr erfinden kann. Sie schweigt, hofft erneut, dass er plötzlich wie durch ein Wunder das zwischen ihnen herrschende Ungleichgewicht von Recht und Unrecht umdreht.
    »Jedenfalls hast du alle Zeit der Welt«, sagt Stefano stattdessen. »Du kommst um neunzehn Uhr in Mailand an, ich fahre dich heim, du kannst sogar noch duschen und dich umziehen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagt sie in einem verzweifelten Versuch, sich an die Wahrheit zu klammern.
    »Ganz bestimmt schaffst du es, Mäuschen«, flötet Stefano, scheinbar gegen jeden Zweifel gefeit. »Es wäre ein Affront Marina gegenüber, wenn du nicht kommen würdest.«
    »Aber ich kenne sie ja kaum, diese Marina.« Sie ist bestürzt, wie er ihr nacheinander alle Auswege versperrt. »Ich habe sie zweimal in meinem Leben gesehen.«
    »Sie ist nicht nur eine Kollegin, sondern auch eine sehr liebe Freundin von mir, klar?« Stefano legt nur ein klein wenig mehr Nachdruck in die Stimme. »Es ist ihr sehr wichtig, dass du auch da bist, du kannst sie auf keinen Fall hängenlassen.«
    »Na gut.« Sie schaut sich um, als ob sie sich von den Tischen und Stühlen dieser verschlafenen Gaststube eine Inspiration erhoffte.
    »Der Eurostar um fünfzehn Uhr fünfzehn, okay?«, sagt Stefano.
    »Alles klar«, sagt sie kraftlos, als hätte sie minutenlang gegen eine schreckliche Strömung anschwimmen müssen. »Ich warte an der üblichen Stelle«, sagt Stefano. »Wo?«, sagt sie.
    »Da, wo ich dich immer abgeholt habe!« Stefano will es offenbar nicht glauben, dass sie sich nicht erinnert. »Wenn man aus dem Bahnhof rauskommt, links.«
    »Ach ja.« Die Stelle, wo er

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