Sie und Er
berührt seine Brust, richtet den Zeigefinger auf sie.
»Statt irgendwo sonst«, sagt sie. »Irgendwo im All verloren.«
»Ohne zu wissen, was für ein Gesicht wir haben oder wie wir heißen«, sagt er.
»Die Mücken.« Sie zeigt auf die geöffneten Fenster. Sie findet nicht, dass sie die Stimmung des Augenblicks verdirbt; es ist nur, dass sie spontan alles ausspricht, was ihr durch den Kopf geht.
Er lächelt. »Zu spät.« Dennoch geht er zur Tür zurück, knipst das Licht aus: Für ein paar Sekunden wird es dunkel im Raum, bevor der Mond seine milchigen Strahlen hereinschickt.
In etwa eineinhalb Metern Abstand stehen sie mit hängenden Armen voreinander im Halbdunkel.
»Sind wir zwei Fremde?«, sagt sie.
»Zwei Fremde, die sich erkennen«, sagt er.
»Erkennen sie sich wirklich?« Ein Zittern liegt in ihren Stimmen. Ihr ist, als stünden sie auf einer hauchdünnen Schicht, sie wundert sich, dass diese ihr Gewicht aushält, aber wer weiß, wie lange.
»Fühlst du es nicht?«, sagt er.
»Doch.« Die Vorstellung erschreckt und freut sie, lockert die letzten inneren Widerstände, die ihr noch geblieben waren.
»Ist es nicht eine unsagbare Erleichterung?«, fragt er.
»Ja.« Auch ihr lag das Wort Erleichterung schon auf der Zunge. Es gäbe noch andere Wörter, aber sie hat weder Lust noch Zeit, danach zu suchen. Die unaufhörlichen Drehungen beim Tanzen sind noch in ihr, der Boden schwingt bei der kleinsten Bewegung wie der Resonanzkörper eines großen, primitiven und sehr empfindlichen Musikinstruments: Man braucht nur ein klein wenig das Gewicht zu verlagern, schon klingt es.
Sie stehen noch im selben Abstand da, dann gehen sie allmählich aufeinander zu, nehmen sich an den Händen; wieder drehen sie sich im Kreis, durchsichtig und aufgewühlt, schnell und in Zeitlupe. Der Raum zwischen ihren Körpern wird geringer und geringer; einen Augenblick später sind sie eng umschlungen; sie sind noch teilweise bekleidet, und dann sind sie ganz ohne alles, die warme, weiche Luft streichelt ihre Haut, dringt wie ein Atemzug in jede Ritze, jede Falte. Sie umarmen sich, so fest sie nur können, sie küssen sich und ziehen und schieben sich, fallen aufs Bett, rollen von einer Seite zur anderen, pressen sich aneinander, Gesicht an Gesicht, Bauch an Bauch in dem verzweifelten Wunsch, den Abstand, der sie trennt, noch zu verringern, auch wenn gar kein Abstand mehr da ist und sie sich dessen auch bewusst sind, aber es genügt ihnen nicht. Ihre Bewegungen fließen wie von selbst ineinander, ihre Hände, ihre Augen, ihre Ohren, ihre Lippen und ihre Zungen sammeln Daten und erregen ein Staunen, das sich über alle Kanäle ihrer Sinne mitteilt und immer noch größer wird.
Er drückt sie enger an sich, küsst zitternd ihre Stirn, die Wangenknochen, die Brauen, die Augen, die Nase, das Kinn, den Hals, den Mund, den Mund. Immer unaufhaltsamer strömen Geist und Materie zwischen ihnen, bis sich beide ganz verlieren in der wachsenden Schwingung, in der Berührung ihrer Körper, im Schweiß, in der Süße des Speichels, bis die immer dünnere Barriere bricht, die ihre Körper, ihren Atem und ihre Gedanken noch trennte: Es ist, als würden sie schwimmen oder fliegen, schwerelos, mühelos, absichtslos, verschmolzen auf die verblüffendste Weise, weit weg von allem, was nicht zu ihnen gehört.
Im Morgenlicht betrachtet er sie aus nächster Nähe
Im Morgenlicht betrachtet er sie aus nächster Nähe: wie sie daliegt mit geschlossenen Augen, die Haare zerzaust von der Nacht und vom Tanzen, Frau und kleines Mädchen zugleich. Ihm scheint, dass ihre Gesichtszüge und ihre Formen vollkommen natürlich jedem Traum entsprechen, den er je gehegt hat, jede Leere füllen, die er je empfunden hat. Sie kommt ihm vor wie ein Wunder, das ihn erstarren und in der Hitze des Zimmers frösteln lässt. Er umarmt sie, nimmt ihre Körperbeschaffenheit auf; die innere Kälte vergeht, nach und nach.
Sie öffnet die Augen, lächelt.
»Hallo.« Seine Stimme klingt gar nicht wie seine; zu viele Daten der Nacht müssen verarbeitet werden, sie stürmen alle auf einmal auf ihn ein.
»Hallo«, erwidert sie, ein wenig heiser.
»Was ist passiert?« Er deutet auf sie beide, das Bett, das Zimmer. In seinem Kopf drängen sich Blicke, Tastempfindungen, das Echo innerer Schwingungen. Er fühlt sich nicht im Geringsten in der Lage, das alles jetzt zu entschlüsseln.
»Ich weiß es nicht.« Sie lacht, auf das Kissen gestützt, mit rosigem Gesicht,
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