Sie und Er
leuchtenden Augen. »Du müsstest es mir erklären.«
»Ach, ich kann gerade gar nichts erklären«, sagt er.
»Nicht einmal, warum uns die Mücken heute Nacht nicht gestochen haben.« Und er fühlt sich auch keineswegs so leicht, wie er vorgibt: Er hat einen ständigen Druck auf der Mitte der Brust, fast wie ein Schmerz, wenn auch nicht ganz.
Sie lächelt immer noch, und ihr Lächeln kommt ihm strahlender vor als alles, was er je gesehen hat.
Er umschlingt sie mit Armen und Beinen; sein Wunsch nach Nähe kennt keine Grenzen, dennoch weiß er genau, dass er nicht herankommen kann an das, was sie in der Nacht erreicht haben. So an sie geklammert, von nicht entschlüsselten Bildern, namenlosen Gefühlen und unerklärlichen Gedanken bewegt, wird ihm plötzlich bewusst, dass das, was er empfindet, auch eine Form von Glück sein könnte. Es ist kein vertrautes Gefühl, obgleich er schon mehr als einmal versucht hat, es sich vorzustellen, als einen schier unmöglich zu erreichenden und ganz unmöglich zu erhaltenden Zustand. Am erstaunlichsten ist, dass es ihm nicht zwangsläufig als vorübergehend erscheint: Die Elemente, denen es entspringt, sind alle hier im Zimmer, vielleicht könnten sie von Dauer sein. Sie und er, er und sie; die Essenz, das Wesentliche; die unerklärliche, unwiderstehliche Kraft, die sie zusammenhält. Wer weiß, vielleicht könnte es sich durch eine wundersame Verkettung von Umständen sogar um einen Dauerzustand handeln, soweit ein menschlicher Zustand überhaupt von Dauer sein kann. Eine unsagbare Vorstellung, sie erfüllt ihn in jeder Faser seines Wesens mit Angst.
Sie fahren über die Hügel, als wollten sie jede Minute ausdehnen
Sie fahren über die Hügel, als wollten sie jede Minute ausdehnen, und verbannen die Gedanken an das Nachher an den äußersten Rand ihrer Aufmerksamkeit. Er zeichnet jede Kurve nach, gibt gerade genug Gas, um das Auf und Ab zu bewältigen, blinkt rechts, um anderen, ungeduldigen Autofahrern zu bedeuten, sie sollen überholen. Sie sitzt zurückgelehnt da, den Arm auf der Wagentür, in das scheinbare NichtVorhandensein von Eile und Richtung versunken. Dennoch rücken die Zeiger der Uhr auf dem Armaturenbrett des alten Jaguar unerbittlich vor: jedes Mal, wenn sie einen Blick darauf wirft, haben sie wieder einen Sprung nach vorn getan, auf den Moment zu, in dem sie zurückfahren müssen. Sie bemüht sich wegzuschauen, den Kopf der lichtdurchfluteten Landschaft zuzuwenden, die rund um sie vorbeizieht. Sie fahren an Olivenhainen und Weinbergen und Pinienwäldern entlang, an Häusern mit Gärten, Hecken, Toren, weißen Plastikstühlen; sie sprechen nicht, beide gleichermaßen verwirrt von den eindringlichen Erinnerungen an ihre nächtliche Vermischung in dem mondhellen weißen Zimmer.
Als die Sonne am heftigsten sticht, halten sie auf dem Platz eines Dörfchens, das oben auf einer Hügelkette thront. Es ist gar kein echter Platz, sondern eine gepflasterte Ausbuchtung an der Durchgangsstraße, mit Blick auf die Häuser, die sich über der Ebene erheben. Auf der Bergseite gibt es eine steinerne Mauer, jahrhundertealte Platanen mit hell gefleckten Stämmen, einen Brunnen neben einer Kirche weiter oben, die roten Sonnenschirme und Tische einer Bar. Dort sitzen ein paar Leute, überwältigt vom Licht und von der Hitze: eine holländische Familie, ein Bodybuilder, der mit einem schmächtigen Mädchen spricht, zwei Freundinnen, die diskutieren, rauchen und Kaffee trinken.
Sie registriert diese Einzelheiten, ohne sie wirklich zu sehen, zu sehr eingehüllt in das Wahrnehmungsfluidum, das jeden Blick, jede Bewegung von ihr mit seinen verbindet, während er neben ihr ist. Es ist eine Mischung aus Verbundenheit, Verlangen und Sehnsucht, die unendlich viele Fragen ohne Antwort in sich birgt.
Wortlos setzen sie sich an ein Tischchen, verschieben die Stühle, um in den Schatten des roten Sonnenschirms zu gelangen. Sie haben beide die gleichen Schocksymptome: Sie halten die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen, bewegen sich verkrampft, unfähig, genau zu rekonstruieren, was passiert ist.
»Du siehst aus wie nach einem Erdbeben.« Er lächelt kaum.
»Du auch«, sagt sie. »Haus eingestürzt, Dorf weggefegt.«
»Weggefegt«, wiederholt er.
»Sollten wir uns Sorgen machen?«, fragt sie, schon zutiefst beunruhigt, wie in Erwartung eines Knalls. »Ja«, sagt er.
Sie versucht erneut, an die Nacht zurückzudenken, doch ihre Erinnerungen tragen sie nicht weit, Gefühlswellen
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