Sie und Er
Stärke. Ich neige eher dazu, auf Sichtweite zu segeln.«
»Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes getan.« Sie lächelt, schaut weg.
Er steigt aus dem Auto aus, holt das Spinnrad vom Rücksitz, stellt es an den Rand der ungepflasterten Straße.
Sie steigt ebenfalls aus, nimmt die Sonnenbrille ab. Sie deutet auf das Spinnrad: »Hängst du gar nicht daran?«
»Nein.« Er zuckt die Achseln. »Soll es irgendeiner nehmen, der vorbeikommt.«
Eine Haarlocke um die Finger wickelnd, dreht sie sich um und blickt auf die Weinreben, die langsam unter der sengenden Sonne zu verdorren scheinen.
Er nimmt einen der Kartons voller Bücher, Briefe, Schriften und kleiner Gegenstände vom Rücksitz und stellt auch den an den Straßenrand. »Und jetzt?« Sofort wird ihm bewusst, dass die Frage zu unbestimmt ist, gemessen an all dem, was zwischen ihnen einer Antwort harrt.
In der Tat. »Jetzt, was?«, fragt sie.
»Segelst du nicht mehr auf Sichtweite?« Er nimmt den zweiten Karton aus dem Auto, stellt ihn neben den ersten.
»Ich weiß nicht.« Sie betrachtet die Kartons an der Straße vor dem Feld. »Was ist das hier, ein demonstrativer Akt?«
»Hast du aufgehört, weil es dich ängstigt?«, sagt er, ohne ihre Frage zu beantworten. »Um weniger verletzlich zu sein?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Vielleicht.«
Er nimmt den dritten Karton, wirft kaum einen Blick auf die verblassten Mappen und die Kinderzeichnungen, die sich darin stapeln.
»Willst du so deine Theorie umsetzen, dass man keine Schlacken der Vergangenheit anhäufen soll und so weiter?«
»Du kannst dich meiner Frage nicht durch eine andere Frage entziehen«, sagt er.
»Ich habe überhaupt nicht verstanden, was du eigentlich fragen willst.« Ihr Ton ist eher barsch, dennoch hört man darunter auch etwas Zärtliches, Wehrloses heraus.
»Warum willst du nicht mehr auf Sichtweite segeln?«, sagt er, während er den letzten Karton neben den anderen abstellt.
»Oh, das mache ich immer noch«, sagt sie. »Aber als meine Beziehung mit Alberto zu Ende ging, habe ich entdeckt, dass ich längst nicht so stark bin, wie ich dachte.«
»Und?« Er streckt die Hand aus, um ihren Arm zu berühren.
Sie weicht zurück: wenig, aber außer Reichweite. »Ich will nicht, dass mir so etwas noch mal passiert.«
»Garantiert dir dein Mailänder Anwalt, dass es dir nicht mehr passiert?«, sagt er.
Wortlos zuckt sie die Achseln.
»Nicht ganz, aber fast, oder?«, sagt er. »Vielleicht mit ein paar kleingedruckten Klauseln, doch in Anbetracht der Bedingungen anderer Firmen und der Marktlage ist es kein schlechtes Angebot.« Er fühlt sich nicht sehr wohl dabei, so eine Metapher zu benutzen, er fühlt sich insgesamt nicht sehr wohl. Ihm ist, als seien ihm an irgendeinem Punkt seines Lebens alle seine Qualitäten abhandengekommen, ohne dass er weiter darauf geachtet hätte, vielleicht sogar unbemerkt und als habe er jetzt keine Ahnung mehr, wo er sie wiederfinden könnte, falls das überhaupt noch geht.
Sie schüttelt den Kopf, blickt über die Weinstöcke, die Lider gegen die Sonne halb geschlossen: wie eine dreizehnjährige Amerikanerin, die in einer sommerglühenden Mittelmeerlandschaft dem zu starken Licht ausgesetzt ist.
»Also?«, sagt er.
»Also nichts«, sagt sie. »Ich suche keine Garantie, bei niemandem.«
Die vollkommene Harmonie der vergangenen Nacht ist wie weggeblasen, und hier stehen sie nun, kämpfen gegen die Gesetze der Physik und der Wahrscheinlichkeit und ringen um die Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln.
Sie setzt die Sonnenbrille wieder auf, geht mit langen Schritten zum Auto zurück.
Müsste er ihre Art zu gehen in einem seiner Romane beschreiben, würde es ihm nicht gelingen, denkt er, denn er hat noch nicht genau erfasst, welche Elemente dabei besonders von Belang sind. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Kombination: die Länge der Beine und die weichen ausladenden Hüften, ihre Art, das Becken leicht vorzuschieben und die Knie höher zu heben als unbedingt nötig; dazu das Nebeneinander von Verlegenheit und Entschlossenheit, die versonnene Leichtigkeit, die fluktuierenden Gedanken, die sich darin widerspiegeln. Er könnte versuchen, auf Ähnlichkeiten mit gewissen Tierarten zurückzugreifen, eine Gazelle, einen weiblichen Geparden oder einen anderen Vertreter aus der Familie der Katzen beschwören, aber es würde zu nichts führen. Genug, er ist schlicht nicht fähig, ihren Gang zu beschreiben; alles, was er tun kann, ist, ihn zu
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