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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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spülen sie zurück.
    Er streckt eine Hand über den Tisch, drückt die ihre; sie sind auf gleiche Weise gebeutelt von der überwältigenden Intensität dessen, was geschehen ist, und der Zerstörung vertrauter Landschaften, die daraus folgt.
    »Lass uns weggehen«, sagt sie.
    »Wohin?«, fragt er.
    »Egal, wenn es nur weit weg ist.« Es verwundert sie, dass er den Vorschlag nicht sofort aufgreift. »Einverstanden«, sagt er.
    »Wirklich?« Plötzlich ist sie entsetzt über die Vorstellung, er könnte sie beim Wort nehmen, ohne ihr weiteren Spielraum zum Überlegen zu lassen. Ihr Kopf ist voll mit katastrophalen Folgen, bei denen eine die andere nach sich zieht, unaufhaltsam.
    »Wir nehmen den Wagen und fahren los.« In seinem Körper ist diese Spannung, der männliche Tatendrang, der alles niederwalzt, Tote und Verletzte zurücklässt, als wollte er tatsächlich gleich aufstehen und zum Auto gehen.
    »Aber wohin denn?« Ihre Stimme klingt brüchig.
    »Nach Westen, nach Norden, wie es uns gerade einfällt«, sagt er. »Das können wir problemlos unterwegs entscheiden.«
    »Bei dieser Hitze würden wir auch nichts brauchen«, sagt sie, als könnten solch nebensächliche Überlegungen sie beruhigen.
    »Nichts«, sagt er.
    Sie hat das Gefühl, dass ihre Lippen zittern, auch wenn sie nicht ganz sicher ist; außerdem glaubt sie, einen Muskeltick am linken Auge zu spüren. »Meinst du das ernst?«, fragt sie.
    Er schaut sie verwundert an. »Ich schon«, sagt er. »Und du?«
    »Hm.« Sie fühlt sich verloren. Am liebsten wäre ihr, er würde sie am Arm wegziehen, ohne ihre Zweifel zu hinterfragen; würde sie ins Auto schieben und schnell davonfahren, würde Hunderte von Kilometern zwischen diesen Augenblick und jede mögliche Erwägung legen.
    Doch er sieht sie weiter forschend an, als wolle er verstehen, ob ihre Absicht echt ist oder bloß eine sentimentale Anwandlung, die in wenigen Minuten verfliegt. Er beobachtet sie stumm und dreht die auf dem Tisch liegende Sonnenbrille mit seinen kräftigen Händen hin und her.
    Sie steht auf. »Ich gehe kurz pinkeln.« Sie überquert die Straße und spürt dabei, wie er ihr mit Blicken und Gedanken folgt. Die Gaststube des kleinen Restaurants ist leer, Tische und Stühle stehen verwaist im Halbdunkel. Durch das Fensterchen der Toilette sieht man die Mauern einiger Häuser steil über dem Tal aufragen. Sie zieht das Handy aus der Tasche. Zwei verpasste Anrufe von Stefano. Dazu eine sms, auch von ihm: Mäuschen, ich hole dich am Bahnhof ab. 1ooo Küsse.
    Die Nachricht scheint von einem unendlich fernen Planeten zu kommen, ist unentzifferbar. Sie blickt sich in dem engen Raum um, ohne dass ihr eine Antwort oder eine sonstige Reaktion einfiele. Mit dem im Schloss wackelnden Schlüssel sperrt sie die Tür auf, geht zurück in die menschenleere Gaststube. Sie geht zwischen den kahlen Tischen auf und ab, schaut aus dem großen Fenster, das die westliche Wand einnimmt: Die darunterliegende Ebene löst sich in der Sonne auf. Sie zwingt sich, ruhig zu atmen, ist aber völlig in Panik, sie zittert. Sie möchte wieder hinausgehen und ihn fragen, was sie tun soll; ihn um Hilfe bitten; ihm sagen, er soll sie wegbringen; sie möchte allein zu einem Entschluss kommen und ihm den dann mitteilen; so tun, als wäre nichts. Am Ende wählt sie Letzteres, nur um Zeit zu gewinnen: Rasch tippt sie Wann?, drückt auf »Absenden«. Gleich darauf bereut sie es, aber die Nachricht ist abgeschickt.
    Noch bevor sie es wieder in die Tasche gesteckt hat, beginnt das Handy zu vibrieren und die Elektrogitarrenklänge abzuspielen: Auf dem Display steht: Stefano.
    Sie wandert in der Gaststube hin und her, weiß einfach nicht, wie sie mit der Situation fertig werden soll. Eine Kellnerin erscheint mit einem Tablett in der Küchentür, geht quer durch den Raum und über die Straße, hin zu dem Tischchen, wo Daniel Deserti sitzt. Das Handy vibriert und klingelt pausenlos, das Display blinkt. Sie denkt, sie ignoriert es einfach, bis es aufhört; sie schmeißt es aus dem Toilettenfenster; sie antwortet, dass sie jetzt keine Zeit hat zum Reden; sie schreit die ganze Wahrheit heraus, so brutal und ehrlich sie nur kann. Sie drückt auf »Abheben« und sagt: »Ja?«
    »Na endlich«, sagt Stefano. »Ich habe mir langsam Sorgen gemacht.« Seine Stimme hat eine ganz unpassende, erschütternde Vertrautheit.
    »Warum denn?« Vielleicht ahnt er schon von allein, was los ist, denkt sie; vielleicht geht es jetzt nur noch darum, seine

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