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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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bewundern.
    Sie öffnet die Autotür, steigt ein: schon weit weg, sehr schwer einzuholen.
    Er sucht nach einer schlagfertigen Bemerkung oder einer Beobachtung, damit sich ihre Laune wieder ändert, doch seine beleidigende, oberflächliche und idiotische Bemerkung über die Garantien geht ihm nicht aus dem Sinn. Er möchte den Damm brechen lassen, möchte aufhören, sich um die Folgen zu sorgen, aber die Zeit vergeht zu rasch, die Sonne brennt zu stark, der Lärm der Zikaden ist zu heftig, sie sind alle beide zu ungeschützt. Auch er setzt seine Sonnenbrille wieder auf, steigt ins Auto, wendet und fährt zurück zur Asphaltstraße. Sie sind wieder in der NichtKommunikation gefangen wie im Zug auf der Rückreise von Ligurien, nur dass die Folgen jetzt viel gravierender sein werden, das wissen sie beide.
    »Ist es noch weit bis zur Autobahn?«, fragt sie nach ein paar Kilometern.
    »Wir schaffen es, keine Sorge«, antwortet er, beinahe feindselig.
    »Ich mache mir keine Sorgen.« Sie zeigt ihm ihr Profil, schaut stur geradeaus.
     
    Dann sind sie schon über die italienische Grenze, schon auf der Hälfte der Küstenautobahn, schon auf dem Abschnitt voller Kurven und Tunnels durch den Apennin, schon mitten in den flachen Feldern der Poebene, schon vor den Toren Mailands, schon im Verkehr der äußeren Umgehungsstraße; schon auf der Allee, die direkt zum Bahnhof führt. Das mit mechanischen Geräuschen erfüllte Schweigen der letzten dreihundert Kilometer hat sich zwischen ihnen gefestigt und macht es schwierig, ein einziges Wort herauszubringen.
    »Setz mich hier ab«, sagt sie kurz vor dem Bahnhofsplatz.
    Er hält abrupt, so dass auch das Auto hinter ihm scharf bremsen muss, und fährt an den Straßenrand.
    Beide bleiben sitzen; sie sehen hinaus, sehen sich von der Seite an. Die Zeiger der Uhr auf dem Armaturenbrett stehen auf kurz vor acht; die Zeit verschlingt unaufhaltsam jeden noch übrigen Spielraum.
    Schließlich dreht er sich zu ihr um: »Bist du sicher?« Seine Stimme klingt heiser, so als hätte er seit Monaten, seit Jahren nicht mehr gesprochen.
    »Wie meinst du das?«, sagt sie.
    »Willst du wirklich gehen?« Er zeigt auf den mit einem Dunstschleier überzogenen städtischen Raum um sie herum.
    Sie antwortet nicht, doch in ihren Augen flackert Unsicherheit, vielleicht auch Erwartung.
    Genau kann er es nicht sagen: Seine Auffassungsgabe scheint genauso außer Betrieb wie seine Fähigkeit, Wörter aneinanderzureihen.
    Sie steigt aus dem Auto, schaut zum Bahnhof, angespannt, als rüste sie sich für eine Schlacht.
    Er steigt ebenfalls aus, öffnet den Kofferraum, holt den kleinen kanadischen Rucksack heraus, hält ihn ihr hin. Erneut sehen sie sich an, voreinanderstehend, noch einen Augenblick in der Schwebe zwischen allen möglichen Sätzen, allen möglichen Gesten und dem genauen Gegenteil.
    Dann ist der Augenblick vorbei; fast gleichzeitig murmeln sie tonlos »Ciao«, können sich nicht mehr in die Augen sehen. Sie küssen sich nicht, sie umarmen sich nicht; er berührt flüchtig ihren Arm, sie läuft rasch davon.
    Er bleibt neben dem Auto stehen und blickt ihr nach, während sie mit ihrem kleinen Rucksack auf der Schulter den Bahnhofsplatz überquert. Noch könnte er ihr mit aller Kraft, die er in den Beinen hat, nachlaufen, sie aufhalten, ihr alles sagen, was er ihr nicht sagen konnte, sie zurückzerren und mit ihr durchbrennen, wohin auch immer. Stattdessen schaut er weiter zu, wie sie sich entfernt, bis sie unter den Bahnhofsarkaden verschwindet. Ihm ist, als schwemmte eine unsichtbare Welle ihn an den äußersten Rand der Bühne, in den mechanischen Lärm und den Feinstaub und den süßlichen Geruch der Abgase. Er steigt wieder ins Auto, fährt langsam los, das Herz beklommen, in der erstickenden Hitze, die alles noch schlimmer macht.
     
    Als sie durch die Bahnhofshalle eilt, fragt sie sich, ob sie auch Erleichterung empfindet
     
    Als sie durch die Bahnhofshalle eilt, fragt sie sich, ob sie auch Erleichterung empfindet, nicht nur Schmerz, Bedauern, Enttäuschung, Angst und andere, weniger benennbare, aber ebenso außer Kontrolle geratene Gefühle. Wenn sie es nüchtern betrachten könnte, käme sie wahrscheinlich zu dem Schluss, dass es das Einfachste wäre, Daniel Deserti zu vergessen. Sie geht rasch, mit gesenktem Kopf, so schnell sie kann, wie um die Zweifel und Ungewissheiten hinter sich zu lassen, die sie an dem alten Jaguar abgestreift hat, und sich vor einer Gefahr in Sicherheit zu

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