Sie und Er
ihrer Haare und ihrer Kleidung weitere Indizien sammelt für das, was geschehen ist. Sie fühlt sich wie eine entlarvte Spionin in einem alten Kriegsfilm, in dem Moment, in dem ihre Maskerade elend zusammenbricht und der feindliche Offizier langsam die Pistole aus dem Halfter zieht, bebend vor Empörung, dass man ihn getäuscht hat. Sie fühlt sich hin- und hergerissen: Soll sie die Tür aufreißen und wegrennen oder in Tränen ausbrechen oder herausschreien, dass sie nie zu ihrer Tante nach Ancona gefahren ist, sondern dass sie in Frankreich war mit einem Mann, der ihr Herz und ihre Gedanken entflammt hat, wie es ihr noch nie passiert ist, obwohl sie sich ausgemalt hatte, dass es mal passieren könnte, der sie aber gerade abgesetzt hat, ohne etwas Bedeutsames zu ihr zu sagen oder ernstlich zu versuchen, sie aufzuhalten, dass aber jedenfalls der Schaden für alle drei nun nicht wiedergutzumachen ist und man ihn also auch gleich zur Kenntnis nehmen kann, da er sich sowieso nicht mehr verbergen lässt.
Doch Stefanos Gesichtsausdruck entspannt sich unerklärlicherweise, anstatt sich zu verkrampfen, bis er beinahe einem Lächeln gleicht: »Du hast den anderen Zug genommen, Mäuschen! Den Eurostar um fünfzehn Uhr, der um zwanzig Uhr in Mailand ankommt! Du bist eine Stunde länger gefahren, für nichts und wieder nichts!«
Sie fixiert ihn, ohne zu verstehen, ob das eine Strategie ist, um sie weiter aus der Reserve zu locken, oder einfach ein absolut unverdienter Vertrauensbeweis.
Stefano wirkt zufrieden, dass er das Rätsel für sich gelöst hat: Er lässt den Motor an. »Wirst du es je lernen, etwas weniger mit dem Kopf in den Wolken zu sein? Wenigstens die Zugfahrpläne richtig zu lesen?«
»Wer weiß«, sagt sie. Eine gewisse Enttäuschung breitet sich über ihre vielschichtigen Gefühle; sie kann nicht umhin zu denken, dass sie lieber ertappt worden wäre und somit gezwungen, sich der Situation zu stellen.
Stefano parkt umständlich aus, seine gewohnte Vorsicht hat seit dem Auffahrunfall mit Daniel Deserti noch zugenommen. Er fädelt sich in den abendlichen Verkehr ein. »Und wie geht’s der Tante?«
»Gut.« Sie registriert den sanft würzigen Duft seines Eau de Toilette, die Gleichmäßigkeit seiner Züge, seinen guten Haarschnitt. Staunt über seine Art, die dem anerkannten Standard des vernünftigen Mannes entspricht. Er wird nie heftigen Erschütterungen oder Veränderungen ausgesetzt sein, wird nie bedrohlich oder unverständlich sein. Schön war’s, denkt sie, wenn sie glücklich darüber sein könnte, hier neben ihm zu sitzen: Wenn sie es ihm sagen, sich hinüberbeugen, ihm den Arm drücken und ihm einen Kuss geben könnte, wenn sie sich der tröstlichen Vertrautheit und Legitimität, der Risikolosigkeit überlassen könnte. Stattdessen überkommt sie ein so stechendes, überwältigendes Gefühl der Entbehrung, dass es ihr den Atem abschnürt und sie angstvoll wie ein Entführungsopfer aus dem Autofenster blickt. Am liebsten würde sie sich hinausstürzen, zwischen den Autos, den Bussen, den Motorrädern und den Fußgängern davonlaufen, um die erstbeste Ecke biegen und Daniel Deserti anrufen, damit er sie abholt, und sie ihm erklären kann, dass sie keine Versicherung oder Garantie braucht, dass sie zu jedem Risiko bereit ist.
Stefano wirft ihr ab und zu einen Blick zu. Als er an einer Ampel hält, sagt er: »Ich fürchte, dass uns keine Zeit mehr bleibt, um bei dir vorbeizufahren, Mäuschen.«
»Nein?« Sie begreift nicht, dass er nicht wenigstens teilweise ihre Gedanken lesen kann.
Er schüttelt den Kopf: »Du kannst dich ja bei Marina noch etwas frisch machen, wenn du willst.«
»Kein Problem.« Sie bewegt ihre Knie, schaut hinaus, ihr Herz schlägt unregelmäßig.
»Du siehst sowieso toll aus.« Er lächelt.
»Ja?« Sie hofft nur, dass er aufhört, sie anzuschauen.
»Du bist sogar ein bisschen braun geworden«, sagt er. »Hast ein wenig Farbe bekommen.«
»Wir hatten Sonne.« Sie fühlt sich außerordentlich feige, weil sie es nicht über sich bringt, ihm zu sagen, wo sie in der Sonne war und mit wem und warum.
»Niemand würde vermuten, dass du eben aus dem Zug gestiegen bist«, sagt Stefano. »Noch dazu nach fünf Stunden Fahrt. Niemand.«
Sie schweigt; sein vertraulicher Ton kommt ihr vor wie eine beinahe ekelerregende Zudringlichkeit und verschlimmert ihre Schuldgefühle noch, sie meint gleich zu ersticken. Sie öffnet das Autofenster, um dem Gefühl von Eingesperrtsein
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