Sie und Er
abzuhelfen.
»Mach zu, sonst kommt die Hitze rein!«, sagt Stefano in einer der Anwandlungen, die noch mit seiner neuen Reife kollidieren. »Draußen ist es siebenunddreißig Grad!«
»Aber ich krieg keine Luft!« Plötzlich hält sie es nicht mehr aus, sie hat das dringende Bedürfnis, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, Widerstände zu überwinden, Leerstellen zu füllen, Hindernisse einzureißen, zum Kern dessen vorzudringen, was sie braucht, damit sie nicht das Gefühl hat zu ersticken.
»Du bist ja ganz schön gereizt«, sagt Stefano; aber er lächelt schon wieder, sein Ärger ist schon verraucht.
»Es tut mir leid«, sagt sie. Und es stimmt: Es tut ihr leid, dass die geweckten Erwartungen mit der Zeit enttäuscht werden, dass die Wiederholung aufreibend ist und zermürbt, dass die Neugier sich in Feststellungen verwandelt, dass die Überraschung verfliegt, dass die Aufmerksamkeit sich abwendet und woandershin richtet, dass die Distanzen sich vergrößern, dass Tage und Abende und Nächte vergangen und verloren sind.
»Du bist einfach müde, du Arme, auch wenn man es dir nicht ansieht. Du hast dir ganz schön was zugemutet, mit dieser Fahrerei.«
Sie lehnt sich im Sitz zurück, beißt sich auf die Lippen.
»Trotzdem, du bist hinreißend«, sagt Stefano, streckt die Hand aus, um sie knapp über dem Knie am Schenkel zu berühren. »Und sexy, in diesem dünnen Kleidchen.«
»Danke.« Sie zieht ihr Bein weg. Könnte sie doch mit einem Zauberspruch diese ganze durch unendlich viele Gesten, Wörter und zusammen verbrachte Minuten vielfach bestätigte Vertrautheit abschütteln, denkt sie, und zu der Zeit zurückkehren, als sie sich überhaupt nicht kannten und zwei unabhängige Menschen mit unabhängigem Leben an zwei unterschiedlichen Orten der Welt waren, ohne irgendwelche Erwartungen oder Versprechungen einhalten zu müssen.
»Marina hat die übliche Clique eingeladen«, sagt Stefano. »Es gibt sicher auch köstliche Sachen zu essen.«
»Gut.« Wenigstens bis sie dort sind, möchte sie lieber nicht darüber sprechen, sondern ihren Gedanken in ganz anderer Richtung freien Lauf lassen.
»Es wird bestimmt ein schöner Abend«, sagt Stefano.
Sie schafft es nicht mehr zu antworten; heimlich späht sie in ihre Handtasche, ob das Display ihres Handys aufleuchtet, weil eine Nachricht eingegangen ist, doch es ist aus: aus.
»Und genau im richtigen Moment«, sagt Stefano. »Bevor alle aus Mailand flüchten und in Urlaub fahren, nicht wahr?«
Sie nickt, beobachtet den Verkehr draußen, der sie nicht interessiert.
»Ach, apropos Urlaub«, sagt Stefano. »Denk daran, dass du dir morgen bei der Arbeit die zwei mittleren Augustwochen freigeben lässt. Vom achten bis zweiundzwanzigsten, ungefähr. Für Ovada.«
Sie antwortet nicht; sie versucht tief einzuatmen, aber ihr ist, als bekomme ihre Lunge noch immer nicht genug Luft.
Er wandert in seiner unerträglich leeren, vollgestellten Wohnung auf und ab
Er wandert in seiner unerträglich leeren, vollgestellten Wohnung auf und ab; eine namenlose Angst schneidet ihm in den Magen, stört seinen Herzrhythmus. Die Luft ist zum Ersticken schwül, die Nacht bringt keinerlei Abkühlung. Er streicht in der Küche herum, öffnet den Kühlschrank, schließt ihn wieder, öffnet ihn erneut, nimmt einen Schluck Wodka aus einer fast leeren Flasche, obwohl er genau weiß, dass das die Lage keinen Deut verbessert. Er geht ins Wohnzimmer, setzt sich an seinen Schreibtisch vor dem Fenster, schaltet den Computer ein, ruft sein Postfach auf, um nachzusehen, ob seine Kinder ihm geschrieben haben: Sie haben nicht geschrieben. Stattdessen sind da Dutzende von E-Mails von ausländischen Verlegern, von Frauen, die er nicht sehen mag, von Journalisten, Organisatoren von Festivals, Freunden, die ihn nicht interessieren, Reisebüros, Computerherstellern, Buchhändlern, Fluggesellschaften, Banken: lauter Müll, schlimmer als in seinen vollgestopften Schubladen, am liebsten würde er auch diesen Computer zertrümmern. Er kehrt in die Küche zurück, schüttet die zwei Finger hoch Wodka, die noch in der Flasche sind, in ein Glas, trinkt mit halbgeschlossenen Augen. Immer wieder sieht er Clare Moletto vor sich, wie sie ihm am Bahnhof gegenübersteht: mit ihrem kleinen Rucksack auf der Schulter, dem unsicheren Blick, dem sensiblen Gesicht, das gleich die Fassung zu verlieren scheint. Er sieht, wie sie davongeht, mit langen Schritten, ohne sich umzudrehen, ohne dass er ihr nachläuft. Immer noch
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