Sie und Er
bringen.
Die Uhr oben zeigt acht Uhr fünf, und sie hätte um sieben Uhr ankommen sollen; in ihrer Aufregung gelingt es ihr nicht, irgendeine plausible Ausrede zu erfinden. Sie hat auch Mühe, so zu tun, als sei sie mit dem Zug aus Ancona gekommen: Sie schaut auf die Leuchttafeln mit den Ankunfts- und Abfahrtszeiten, die Rolltreppen, die zur Gleisebene führen, die alte Haupttreppe, und kann sich für keinen Weg entscheiden. Auf ihrem Handy sieht sie drei nicht entgegengenommene Anrufe von Stefano, die sie überhört hat im Lärm des offenen Autos und wegen all der Gedanken, die auf sie einstürzten. Sie fragt sich, ob Daniel Deserti in der Hoffung, sie zurückkommen zu sehen, noch da steht, wo sie ihn verlassen hat, oder ob er schon weg ist, für immer; ob Stefano noch am Bahnsteig steht, ob er an ihrem früheren Treffpunkt auf sie wartet oder ob er auch weg ist.
Soll sie nun zur Ebene der Gleise hinaufgehen oder den Bahnhof gleich durch den Seiteneingang verlassen? Sie schwankt; zuletzt beschließt sie, gleich hinauszugehen. Ihr Herz klopft schnell; sie weiß, dass sie kein glaubhaftes Alibi hat, keine Verteidigungsstrategie. Im Lügen war sie noch nie gut, auch als Kind nicht; im Betrügen hat sie keine Erfahrung. Sie hasst es, sich in dieser Lage zu befinden: Jede andere Art von Hindernis oder Schwierigkeit wäre ihr lieber.
Sie verlässt den Bahnhof linker Hand, geht zu der Stelle, wo sie und Stefano sich in ihren Anfängen trafen: Da stand er neben dem Auto und wartete auf sie, ein wohlerzogener junger Mann, voller förmlicher Aufmerksamkeiten, die so sehr mit Albertos demonstrativ rüpelhaftem Benehmen kontrastierten. Lang hatte diese Phase nicht gedauert; sobald sie ihm gesagt hatte, er müsse sie nicht abholen, sie könne sehr gut mit der U-Bahn zu ihm fahren, war es vorbei gewesen. Er hatte sich so leicht überzeugen lassen, dass es sie befremdete, obwohl sie das damals nicht zugegeben hätte. Das ist eine der Sachen, die ihr in all dem Wirrwarr einfallen: die vorgebrachten und dann zurückgezogenen Angebote, die später wiederholt wurden, als ob sie neu wären.
Am Brunnen an der Ecke hält sie inne: Stefanos gewehrlaufgrauer Audi steht genau da, wo vor zweieinhalb Jahren sein weißer Golf stand, wenn er sie abholte, zwischen anderen im Halteverbot geparkten Autos. Er sitzt darin bei laufendem Motor; als er sie sieht, steigt er aus.
Er kommt ihr entgegen, mustert sie fragend. Er ist etwas größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht ist glatter.
»Ciao«, sagt sie. Sie umarmen sich ohne viel Schwung: Ihre Lippen berühren sich und gleiten zur Seite auf die Wangen.
Er nimmt ihr den Rucksack ab: »Entschuldige mal, mit welchem Zug bist du denn gekommen?« Seine Lippen sind schmaler als die von Daniel Deserti, seine Nase ist kürzer, seine Haare sind schütterer, die Augen hinter den Brillengläsern stehen näher beieinander.
»Mit dem, den wir ausgemacht hatten«, antwortet sie unsicher.
Er starrt auf ihren Mund, als könnte er sie nicht verstehen.
»Er hatte Verspätung.« Sie verhaspelt sich. »Und ich habe ewig zum Aussteigen gebraucht, weil er so voll war.«
Stefano schüttelt den Kopf: »Der Zug war superpünktlich.«
Sie fühlt, wie ihr Blut stockt; sie schaut zu der Allee vor dem Bahnhofsplatz hinüber, wo Daniel Deserti mit seinem alten grünen Jaguar angehalten hatte.
Stefano sieht sie weiter forschend an, hält ihren kleinen Rucksack in den Händen, als ob er ihn beschlagnahmt hätte. »Der Zug aus Ancona kam Punkt neunzehn Uhr an, jetzt ist es zehn nach acht.«
»Hm.« Ihr Kopf ist völlig leer, keine Ausrede, nicht das geringste Stichwort, um etwas zu erwidern.
Stefano öffnet eine Autotür, wirft den Rucksack auf den Rücksitz. »Steig ein«, sagt er, »hier draußen vergeht man ja in der Hitze.« Er hält ihr die Türe auf, wie in der kurzen Phase der Galanterie, aber steifer und irritiert.
Sie zögert, wie vor einer Falle; zuletzt steigt sie ein, drinnen ist es durch die Klimaanlage viel zu kalt.
Stefano setzt sich ans Steuer: »Ich war am Bahnsteig, habe gewartet, bis alle ausgestiegen sind, aber du warst nicht dabei.«
»Nein?« Es klingt, als wäre sie als Erste darüber erstaunt.
»Nein«, sagt Stefano. »Zuletzt bin ich wieder gegangen und habe hier gewartet, damit ich nicht vor Hitze umkomme oder hinterher mein Auto weg ist.«
Sie fragt sich, ob er den Geruch eines anderen Mannes wahrnehmen kann, der an ihr haften geblieben ist; ob er anhand des Zustands
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